Im Schatten des Krieges: Das rigorose Durchgreifen der Regierung in Belarus
Fast drei Jahre sind seit der letzten umstrittenen Wiederwahl von Alexander Lukaschenko vergangen. Politische Gegner und friedliche Demonstranten werden auch heute noch unterdrückt. Unter dem Vorwand der Extremismusbekämpfung haben die Behörden praktisch alle unabhängigen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen eliminiert – eine Überlebensstrategie, die das Regime weiter vom Westen isoliert.
Der vollwertige Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, fesselte die Aufmerksamkeit der Medien und lenkte ab von der kontinuierlichen Verschlechterung der Menschenrechtslage in Belarus. Die Niederschlagung der Massenproteste, die nach Lukaschenkos sechstem vorgeblichem Wahlsieg am 9. August 2020 die Schlagzeilen bestimmten, ist jedoch nach wie vor im Gange. Im In- wie im Ausland drohen Repressionen, politische Gegner werden in Abwesenheit vor Gericht gestellt und Aktivisten der Zivilgesellschaft als „Extremisten“ oder „Terroristen“ gebrandmarkt. Dieses Vorgehen hat Belarus in internationalen Rankings weiter absacken lassen. Der Bertelsmann Transformation Index (BTI) beispielsweise, der die Qualität des Regierungshandelns von 137 Entwicklungs- und Transformationsländern misst, stuft Belarus im Jahr 2022 zurück auf Platz 123.
Dissidenten werden zum Schweigen gebracht und kriminalisiert
Das Lukaschenko-Regime verfolgt eine Politik der Null-Toleranz gegenüber allen anderen Meinungen. Wie im BTI-Länderbericht beschrieben, zeigt die Niederschlagung der friedlichen Proteste das Bestreben, die Macht zu festigen: „Auf Forderungen nach politischen Reformen von bedeutenden Teilen der belarussischen Gesellschaft, des Westens und Russlands reagierten die Behörden mit einer Verschärfung der Repression und täuschten vorübergehend einen Dialog über die sogenannte Verfassungsreform [2022] vor.“
Auf die Mobilisierung der Bevölkerung 2020 folgten Gewalt und Verhaftungen. Allein im Jahr 2020 nahmen die Behörden mehr als 35.000 Menschen fest. Drei Oppositionsführer wurden bereits vor Beginn des Wahlkampfs verhaftet: Sergej Tichanowski, Mikola Statkewitsch und Viktar Babaryka. Sie wurden zu 14 bis 18 Jahren Haft verurteilt. Zwei weitere Präsidentschaftskandidaten zwang man ins Exil und Hunderte von Mitarbeitern und Anhängern der politischen Opposition landeten im Gefängnis.
Fast alle, die nach dem Wahlergebnis von 2020 und der Polizeigewalt zu Protesten aufriefen, wurden inhaftiert und/oder mit Geldstrafen belegt, weil sie gegen das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten verstoßen hatten, das nicht genehmigte Massenveranstaltungen praktisch verbietet. Ab November sahen sie sich jedoch zunehmend mit dem Vorwurf konfrontiert, illegale Proteste organisiert oder finanziert zu haben, Das sind Straftatbestände, die mit zwei bis fünf Jahren Haft in einer Strafkolonie geahndet werden.
Hunderte von Menschen – Journalisten, Studenten, zivilgesellschaftliche Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger, Blogger, Kulturschaffende, ehrenamtliche Mediziner, Anwälte, Gewerkschafter – wurden so zu politischen Häftlingen. Ihre Zahl stieg laut dem Menschenrechtszentrum Viasna, das auch politisch motivierte verwaltungsrechtliche Verfahren registriert, von 324 Anfang April 2021 auf über 1.500 zwei Jahre später. Trotz der offiziellen Leugnung und Vernachlässigung der Covid‑19-Pandemie (einer verqueren und, wie sich herausstellte, unangemessenen Politik aufgrund einer abweichenden Coronavirus-Meinung) beriefen sich die Richter auf gesundheitsbedingte Einschränkungen, um die meisten politischen Prozesse hinter verschlossenen Türen abzuhalten.
Säuberungsaktionen in der Zivilgesellschaft
Aus Angst vor Verhaftung verlagerten sich die Proteste weitgehend ins Internet – ebenso wie die behördliche Verfolgung. Die Administratoren von Telegram-Gruppen-Chats und Informationskanälen gerieten ins Visier. In Ermangelung horizontaler Governance-Systeme in Belarus nutzten die Menschen Telegram-Chats, um die Untätigkeit des Staates zu kompensieren. Sie dienten dem Austausch von Informationen über lokale Covid‑19-Virus-Cluster und der Mobilisierung von Freiwilligen zur Verteilung von Masken. Diese virtuellen Gemeinschaften trugen im Jahr 2020 dazu bei, Protestaktionen zu koordinieren, Teilnehmer vor Einsätzen der Bereitschaftspolizei zu warnen, Beweise für Polizeigewalt zu dokumentieren und Gelder zu sammeln, um die Verfahrenskosten der verhafteten Demonstranten zu bezahlen. BYSOL, die wichtigste dieser Solidaritätsplattformen, wurde in der Folge beschuldigt, „illegale Proteste zu finanzieren“, und später auf die Liste der extremistischen Organisationen gesetzt. Das Abonnieren eines Telegram-Kanals, der als Produzent extremistischen Materials geführt wird – eine Liste, der der KGB seit 2021 Hunderte von Einträgen hinzugefügt hat –, reicht nun aus, um strafrechtlich verfolgt zu werden.
Um die Kriminalisierung Andersdenkender zu legalisieren, wurde zwischen 2021 und 2022 die belarussische Gesetzgebung geändert und das Recht der Belarussen auf Meinungsfreiheit eingeschränkt. Gruppierungen in der Gesellschaft, die als „gefährlich“ galten, wurden damit zum Schweigen gebracht, ihre Mitglieder inhaftiert oder ins Exil gezwungen, vor allem nachdem am 27. Februar 2022 wieder Straßenkundgebungen stattfanden, die sich gegen die russische Aggression in der Ukraine richteten. Den Belarussen, die sich grundsätzlich friedlich verhalten wollen, wird das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen verweigert, obwohl sie laut Umfragen von Chatham House mit großer Mehrheit neutral bleiben wollen. Im Frühjahr wurden über 50 sogenannte Eisenbahnpartisanen verhaftet, die Infrastruktur sabotiert hatten, die das russische Militär für den Nachschub nutzte. Später wurde das Terrorismusgesetz geändert, um die Todesstrafe auch für „versuchte“ oder „geplante“ Terroranschläge verhängen zu können.
Die harte Reaktion der Behörden zeigt Wirkung gegen weiteren Aktivismus. Bis Ende 2020 hatten Streiks, Demonstrationen, Mahnwachen und andere öffentliche Formen des Protests viel von ihrer Dynamik verloren. Selbst Menschen, darunter auch Minderjährige, die ihr Andersdenken durch das Tragen von weiß-rot-weißen Farben zum Ausdruck brachten, einer tolerierten Mode in der Liberalisierungsperiode 2016-2019, waren polizeilichen Schikanen ausgesetzt. Alle Anzeichen einer sanften Belarussisierung – ein Begriff, der die jüngste Entstehung eines Nationalgefühls in Belarus und die anschließende Förderung der belarussischen Kultur und Sprache gegen die Dominanz einer „russischen Welt“ charakterisiert – sind nun aus der gesellschaftlichen Landschaft verschwunden.
„Leise Übernahme“ des Landes durch Russland
Der zivilgesellschaftliche Raum wurde praktisch von kritischen Stimmen gesäubert. Über 700 zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter auch Gruppierungen, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte einsetzen, waren gezwungen, sich zwischen 2021 und 2022 aufzulösen. Das anhaltend harte Durchgreifen hat Hunderttausende von Belarussen seit 2020 ins Exil getrieben, ohne Aussicht auf eine sichere Rückkehr. Im Exil versuchen sie, ihre Communitys wieder aufzubauen und trotz widriger Umstände ihre Aktivitäten wieder aufzunehmen: Aufgrund von Sanktionen gegen Belarus wegen seiner unterstützenden Rolle im Krieg gegen die Ukraine haben belarussische Passinhaber in den meisten EU-Ländern seit März 2022 große Schwierigkeiten, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten oder ein Bankkonto zu eröffnen. In Georgien, wo viele Belarussen, die in die Ukraine geflohen waren, nach Ausbruch des Krieges Zuflucht suchten, befürchten die Exilanten, ausgeliefert zu werden, nachdem der belarussische KGB mit seinem georgischen Pendant ein Abkommen über Zusammenarbeit unterzeichnet hat.
In Belarus selbst handelt die einzige verbliebene Unterstützerbasis von Lukaschenko im Sinne einer Regierung: der Sicherheitsapparat, die GONGOs (vom Regime kontrollierte Nichtregierungsorganisationen) und Loyalisten, darunter Regierungsbeamte und ältere Menschen. Diese Situation wird zur weiteren Konsolidierung des sich auf Scheinwahlen stützenden Autoritarismus in Belarus beitragen, insbesondere wenn bis zur nächsten Wahlperiode 2024-2025 keine echte Reform durchgeführt wird.
Durch Sanktionen vom Westen isoliert, mit wirtschaftlicher Stagnation konfrontiert und mit dem Verlust eines wichtigen Teils seines Humankapitals, ist Belarus immer anfälliger für den Druck Moskaus zur „tieferen Integration“. Die Tatsache, dass Lukaschenko die Souveränität des Landes gegen die russische Unterstützung für das Überleben seines Regimes eintauscht, verdüstert die Chancen von Belarus auf eine Demokratisierung. Belarussen, die seit Jahrzehnten vergeblich für die Achtung ihrer Grundrechte gekämpft haben, werden sich erneut zusammenschließen müssen, ihre Kräfte bündeln und Unterstützung von außen erhalten müssen, um sich dem derzeitigen Trend zur Unterwerfung – manche sagen, zur „leisen Übernahme“ – ihres Landes durch Russland wirksam zu widersetzen.
Aus dem Englischen übersetzt von Karola Klatt.