Mali im Umbruch? Multiple Krisen und Ungewissheit
Lange Zeit ein Geber-Liebling und Hoffnungsträger für die Demokratie in der Region, ist Mali in den letzten Jahren stark von politischen Herausforderungen und Konflikten gezeichnet. Die aktuelle Übergangsregierung nach dem Militärpusch von 2020 ist dabei mit eigenen Schwierigkeiten behaftet. Grund zur Hoffnung gibt die Zivilgesellschaft.
Die aktuelle politische Situation in Mali ist komplex und zäh. Seit dem Putsch der Militärjunta CNSP (Nationalkomitee zur Rettung des Volkes) unter Oberst Assimi Goita und dem Sturz der Regierung unter Präsident Ibrahim Boubacar Keïta (IBK) am 18. August 2020, befindet sich das Land in einem Übergangsprozess hin zu einer neuen Regierung und vermeintlich politischer Stabilität. Ein Übergangsrat aus Vertreter:innen des Militärs sowie einzelner politischer und gesellschaftlicher Gruppen hat sich dafür eine Frist von 18 Monaten gesetzt. Im Frühjahr 2022 sollen freie Wahlen stattfinden, bei denen keines der aktuellen Ratsmitglieder antreten darf. Damit folgt Mali ungefähr dem Modell Sudans nach dem Sturz des dortigen Militärdiktators Omar Hassan al-Bashir im April 2019.
Dem Putsch waren seit Juni 2020 zivilgesellschaftliche Proteste vorausgegangen, angeführt durch die Protestkoalition M5-RFP, in Malis Hauptstadt Bamako. Die Bewegung speiste sich aus dem Unmut der Bevölkerung über Korruption der Regierung, die Eskalation der vertrackten Sicherheitslage sowie der geschwächten ökonomischen Situation im Land und einem Mangel an Perspektiven, gerade für jüngere Menschen. Die COVID-19-Krise brachte das Fass zum Überlaufen. Die Proteste eskalierten mehrfach. Angesichts der weit verbreiteten Unzufriedenheit begrüßte die Bevölkerung den Putsch überwiegend. Es wurde von Aufbruchsstimmung gesprochen.
Wurzeln des politischen Konflikts bis heute
Hintergrund für diese komplexe Gesamtlage ist ein multipler Krisenmodus, in dem sich Mali insbesondere seit 2012 befindet, und der sich in den letzten Jahren drastisch verschlimmert hat:
Ein Konflikt zwischen den Tuareg (der größten Ethnie in Nordmali) und der malischen Regierung um mehr Autonomierechte war seit 1963 mehrfach eskaliert (1990, 1994-2000, 2006 und 2012), aber nie gelöst worden. Zurück geht dies auf die Teilung des hauptsächlich von Tuareg bewohnten Territoriums durch postkoloniale Nationenbildung und die Festlegung von Staatsgrenzen ohne Einbeziehung der Tuareg-Interessen.
Der malische Staat war nie in der Lage in seinem Staatsgebiet eine ausreichende Infrastruktur bereitzustellen, insbesondere hinsichtlich Bildung, Gesundheit und Straßenbau. Vielmehr fiel er im Norden und Nordosten des Landes faktisch durch Abwesenheit auf. Terroristen aus Algerien fanden Ende der 2000er Jahre Zuflucht in Zentren des Nordens. Mit ihnen kamen Waffen, ebenso aus Libyen. Mit dem Ausbruch des Libyen-Konflikts 2011 folgte eine Verbreitung islamistischer Ideen durch rückkehrende Kämpfer. Dies verschärfte eine angespannte Situation, geprägt von zunehmenden Dürren, schlechteren Böden für Viehherden und hoher Jugendarbeitslosigkeit. „Traditionell“ folgt der Islam in Mali einer toleranten Sufi-Richtung.
Auf den Tuareg-Aufstand Anfang 2012 folgte ein Staatsstreich in Bamako. Die Nationale Bewegung zur Befreiung des Azawad (MNLA) nutzte das Machtvakuum, rief den unabhängigen Tuareg-Staat Azawad aus und eroberte die zentralen Städte des Nordens innerhalb kürzester Zeit. Durch das Eingreifen islamistischer Gruppen wurde der Konflikt internationalisiert. Tausende von Menschen flohen in den Süden Malis oder in die Nachbarländer.
Die internationale Gemeinschaft drängte nach dem Putsch zu demokratischen Wahlen, die den ehemaligen Premierminister IBK im August 2013 zum Präsidenten machten. Trotz ambivalenter Leistungen und zunehmender Verwicklung in Korruptionsskandale, wurde er 2019 wiedergewählt. Seit Januar 2013 interveniert Frankreich zur „Terrorismusbekämpfung“ (und nicht zuletzt Migrationskontrolle), zunächst auf Bitten des malischen Interimspräsidenten, da die islamistischen Gruppen nach Bamako vorrückten. Die bereits vorgesehene afrikanisch geführte Militärmission des UN-Sicherheitsrats MINUSMA (Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali) begann ihren Einsatz ein halbes Jahr später. Auch die Europäische Union ist mit zwei Missionen im Land, unter Beteiligung der Bundeswehr.
Der offizielle Friedensprozess, 2015 konsolidiert und von relevanten Gruppen und Parteien unter internationaler Aufsicht in Algerien unterzeichnet, wird von der Bevölkerung trotz Zweifel auf Erfolg prinzipiell positiv gesehen. Der Regierung und internationalen Akteuren gelingt es angesichts der komplexen Krisen- und Sicherheitslage nicht, den Norden zu befrieden. Seit 2015 hat sich der Konflikt vielmehr dezentralisiert und verschärft: Zentren „Weißer“ in Bamako sowie der internationalen Sicherheitskräfte wurden Ziel von islamistischen Anschlägen. Dschihadisten aus dem Norden infiltrierten Gruppen der Ethnie Fulbe gegenüber den Dogon in Zentralmali, die sich wiederrum als Rebellengruppe radikalisierten. Letztlich geht es um alte Fehden über Land und Ressourcen. Der Konflikt breitete sich über die Grenzen nach Niger und Burkina Faso, mittlerweile auch in den westlichen Senegal aus. Seit 2019 greifen die ethnisch motivierten Rebellen und dschihadistischen Gruppen zunehmend Zentralmalis Bevölkerung an. An einigen Orten kam es zu brutalen Massakern. In Abwesenheit des Staates, bieten die Gruppen der Bevölkerung andererseits Schutz vor islamistischer und gegenseitiger Bedrohung. Vor allem junge Männer schließen sich aus großer Desillusionierung an. Wieder wurden viele intern und international vertrieben. Die letzte Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) bestätigte im März 2020 Sicherheit, Jugendarbeitslosigkeit und Armut als größte Herausforderungen im Land. Die Situation in Zentralmali kumuliert mit einer dramatischen Dürre- und damit Ernährungskrise. Konflikt- und Krisenmodi sind komplex, inter-/national und lokal verwoben.
Im Spannungsfeld lokaler, internationaler und zivilgesellschaftlicher Akteure
Auch wenn die internationalen Einsatzkräfte in Mali bisher nicht für Sicherheit sorgen können, scheint es keine glaubwürdige Alternative zu geben. Die Bewegung „Yèrèwolo débout sur les remparts’’ ruft zum Abzug der französischen Truppen, der ehemaligen Kolonialmacht, auf. Während die Übergangsregierung sich zu Frankreich bekennt und im Januar angesichts eines Demonstrationsverbots mit Sicherheitskräften und Tränengas gegen Demonstrant:innen vorging. Mali hat praktisch die Kontrolle über einen großen Teil seines Territoriums verloren. Frankreich scheint derweil vor einer Strategieänderung seiner „Terrorismusbekämpfung“ zu stehen und lokale Kräfte hin zu mehr Autonomie und Dialog aufzubauen. Dazu bedarf es allerdings grundlegender Veränderungen in der malischen Sicherheitsstruktur. Internationale Nichtregierungsorganisationen weisen darauf hin, dass zukünftige Kooperation zivile Friedens- und Dialoginitiativen in den Mittelpunkt stellen und einen stärkeren Fokus auf den Schutz der Zivilbevölkerung legen sollten.
Die Übergangsregierung und Bevölkerung des Landes stehen vor immensen Herausforderungen. Prinzipiell ist vieles möglich: Die internationale Gemeinschaft drängt nicht wie nach dem Putsch 2012 auf schnelle Neuwahlen. Elemente des geplanten Übergangsprozesses, wie die Nicht-Wiederwahl aktueller Regierungsmitglieder, sind positiv. Auch gibt es Ansätze, die unterschiedlichen ethnischen Gruppen wieder zu integrieren. Gerade unterzeichneten diese in Zentralmali drei Friedensabkommen. ECOWAS und die internationale Gemeinschaft erkennen die Übergangsregierung an. Kurzfristige Sanktionen wurden beendet und der aktuelle Präsident Bah N’Daw war Ende Januar 2021 zum ersten Mal außerhalb Westafrikas vom französischen Präsidenten Macron eingeladen zur Vorbereitung des G5-Gipfels der Sahelländer. Angesichts der internationalen Aufmerksamkeit ist möglicherweise zu verstehen, dass ein erstes Revisionstreffen des Friedensabkommens von Algier angesetzt wurde.
Für Kritik auf Seiten der ECOWAS, aber insbesondere der malischen Bevölkerung und zivilgesellschaftlicher Organisationen, sorgt die Tatsache, dass der Übergangsrat von Militärs dominiert ist – anders als international und zivilgesellschaftlich gefordert. Der Regierungschef, ein ehemaliger General, ist mittlerweile pensioniert, doch der neu geschaffene Posten des Vizepräsidenten ist vom Anführer des Militärputsches, Oberst Assimi Goita, besetzt. Ob die Reformen für den Wiederaufbau von Staat und Demokratie die geforderte Offenheit und Transparenz einhalten, ist umstritten. Vorwürfe der Korruption existieren weiter. Vertreter:innen der M5-RFP kündigten erneute Proteste an.
Dabei liegt im ausgeprägten Engagement der Zivilgesellschaft eine Chance die aktuelle Schieflage aufzuheben. Nicht nur schuf die Zivilgesellschaft Grundlagen für den letzten Machtwechsel. In anderen Bereichen, wie dem Protest gegen Abschiebungen, verzeichnete sie wiederholt Erfolge. Der BTI 2020 beschreibt:“Mali’s vibrant civil society organizations have helped strengthen pluralism since the democratic transition in the early 1990s. [….] In the past twenty years, the NGO sector has flourished; it is incentivized by substantial funding from donor NGOs, agencies and countries.” Zivilgesellschaftliche Organisationen sind im Friedensbildungsprozess engagiert, unterstützen die Emanzipation von Frauen und leisten als transnationale Migrationsnetzwerke existentielle Unterstützung großer Bevölkerungsteile. Allerdings bestehen viele Nichtregierungsorganisationen nur auf dem Papier, während andere von staatlichen Strukturen abhängen. Instrumente wie der Nationale Inklusive Dialog (DNI), einberufen von IBK zur Einbindung der Bevölkerung, bezeichnete die letzte FES-Befragung als nützliche Veränderungsinstrumente. Der aktuelle Übergangsprozess kann nur gelingen, wenn er zivilgesellschaftliche Akteure und Initiativen sowie die Bedürfnisse der Bevölkerung einbezieht.
Susanne Schultz ist Project Manager im Programm „Integration und Bildung“ der Bertelsmann Stiftung. Sie ist promovierte Expertin zu Migration und Westafrika und Associated Research Fellow am Center on Migration, Citizenship and Development (COMCAD).