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Presidential candidate Gustavo Petro. Photo: The Left via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Wird Kolumbien erstmals einen linken Präsidenten wählen?

Mit Spannung werden die Präsidentschaftswahlen am 29. Mai in Kolumbien erwartet, denn der progressive Kandidat Gustavo Petro ist derzeit am aussichtsreichsten. Wird sich der Linksruck in Lateinamerika fortsetzen, wie zuletzt in Chile und Honduras?

Bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Kolumbien liegt der progressive Kandidat Gustavo Petro in den Umfragen vorn. Es zeichnet sich ab, dass er der erste linksgerichtete Präsident des Landes werden könnte. Wer auch immer aus den Wahlen als neuer Präsident hervorgeht, steht angesichts einer polarisierten Wählerschaft, einer von Drogengewalt erschütterten Nation und einer von Covid-19 verursachten Wirtschaftskrise vor schweren Aufgaben.

Petro, ein ehemaliger Bürgermeister von Bogotá und Zweitplatzierter bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2018, tritt mit dem Ziel an, die Ungleichheit zu mildern und den kolumbianischen Ölhandel einzuschränken. Als Kandidat der Partei Historischer Pakt versucht er, ein breites Spektrum an potenziellen Wählern anzusprechen. Seine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Francia Márquez, ist Menschenrechts- und Umweltaktivistin. Im Falle ihrer Wahl würde sie als erste afrokolumbianische Vizepräsidentin des Landes in die Geschichte eingehen.

Die Wahl wird zum Prüfstein, ob Kolumbien, das lange Zeit eine Hochburg der Rechten war, bereit für eine linke Regierung ist. Infolge der fünf Jahrzehnte andauernden Gewalt zwischen einer marxistisch orientierten Guerilla und paramilitärischen und staatlichen Kräften hegen viele Wähler Misstrauen gegenüber den Linken. Doch die Geduld mit der rechten Regentschaft geht langsam zu Ende. Die Wut brach sich 2021 Bahn, als in den großen Städten Menschen auf die Straße gingen, um gegen die Pläne der rechtsgerichteten Regierung zu protestieren, die Steuern trotz des starken Konjunktureinbruchs in der Corona-Zeit zu erhöhen. Diese teilweise gewalttätigen Demonstrationen wurden von der Polizei oft brutal unterdrückt: Laut einem UN-Bericht starben dabei mindestens 44 Zivilisten und zwei Polizisten.

Die wachsende Unzufriedenheit ließ die Zustimmungswerte des konservativen Präsidenten Iván Duque Márquez während seiner Amtszeit um mehr als die Hälfte sinken. Kolumbianische Präsidenten können nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren. Umfragen Ende April sahen Petro mit 43,6 Prozent der Stimmen vorn, während der Mitte-Rechts-Kandidat Federico „Fico“ Gutierrez, ein ehemaliger Bürgermeister von Medellín, der zweitgrößten Stadt des Landes, nur auf 26,7 Prozent kam.

Allerdings muss Petro bei der Wahl am 29. Mai mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um in der ersten Runde schon Präsident zu werden. Erhält kein Kandidat mehr als die Hälfte der Stimmen, werden die beiden Spitzenkandidaten im Juni eine weitere Runde bestreiten.

Zahl der Morde in ländlichen Gebieten steigt

Kolumbien steht vor der Bewältigung schwerwiegender Konflikte. Die Gewalt in ländlichen Gebieten nimmt zu und lässt Zweifel am Bestehen des historischen Friedensabkommens aufkommen, das vor mehr als fünf Jahren zwischen der kolumbianischen Regierung und der linken Guerillabewegung Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) geschlossen wurde.

Vor dem Hintergrund des langen und blutigen Bürgerkriegs beschreibt der Länderbericht Kolumbien 2022 des Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI) die neue Welle von Morden an Aktivisten, Menschenrechtlern und ehemaligen FARC-Kämpfern als „eine neue Phase in der Entwicklung des gewaltsamen Konflikts in dem Land.“

Der Governance-Index des BTI misst unter anderem die Qualität der politischen Führung, die den Transformationsprozess steuert. Zwischen 2020 und 2022 sank Kolumbiens Wert bei diesem Indikator von 6,42 auf 5,88 von 10 möglichen Punkten. Für die Zeitspanne der letzten zehn Jahre bilden die kolumbianischen Werte eine umgekehrte U-Kurve: Sie steigen unter dem ehemaligen Präsidenten Juan Manuel Santos Calderón von 5,98 auf 6,93 Punkte im BTI 2018 an, um dann unter Präsident Iván Duque auf den niedrigsten Stand seit einem Jahrzehnt zu fallen.

Der international mit viel Lob bedachte Friedensprozess von 2016, der dem damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos sogar einen Nobelpreis für seine Bemühungen einbrachte, wurde von der Regierung Duque schrittweise geschwächt. Über den Erfolg dieses Friedensabkommens wird wahrscheinlich der neue Präsident entscheiden. Er kann helfen, den Frieden zu bewahren, wenn er die Regierungsverpflichtungen des Abkommens ernst nimmt und beispielsweise Hilfe für betroffene Gemeinden und Schutz für Gemeindevorsteher in Gebieten anbietet, in denen die Gewalt der bewaffneten Gruppen zunimmt. Der neue Präsident könnte jedoch auch Duques bewährtem Muster folgen und die Umsetzung des Abkommens absichtlich behindern. Petro, der in seiner Jugend Mitglied der inzwischen aufgelösten Rebellengruppe M-19 war und sich seit langem für soziale Gerechtigkeit engagiert, ist unter den Präsidentschaftskandidaten der einzige, der sich für die Wiederbelebung des gefährdeten Friedensabkommens einsetzt.

Außerdem wird sich der neue Staatschef mit den Auswirkungen der humanitären Katastrophe im benachbarten Venezuela befassen müssen: Aufgrund von Nahrungsmittelknappheit und Gewalt haben rund zwei Millionen Venezolaner in Kolumbien Zuflucht gesucht.

Instabilität der ölbasierten Wirtschaft

Die COVID-19-Pandemie stürzte die kolumbianische Wirtschaft in die schwerste Rezession seit mehr als einem Jahrhundert. Nun wird für 2022 wieder ein BIP-Wachstum von 5,5 Prozent und für 2023 von 3,1 Prozent prognostiziert. Doch das Bedürfnis nach einem „menschenwürdigen und besseren Leben“ hat laut Mariano Aguirre, Associate Fellow von Chatham House und der Friedrich-Ebert-Stiftung Bogotá, für viele Wähler nach wie vor oberste Priorität angesichts der Tatsache, dass Ende 2021 von den 50 Millionen Einwohnern Kolumbiens 19,6 Millionen in Armut lebten, davon 6,1 Millionen in extremer Armut.

„Viele, aber nicht alle dieser Stimmen werden an Gustavo Petro gehen“, sagte er in einem Interview. „Viele werden aus Angst vor einer zu linken Regierung auch gegen ihn stimmen. Diese Stimmen werden sowohl aus Teilen der Mittelschicht als auch von der Machtelite kommen, die ihre Privilegien bedroht sieht. Andererseits wird es in Regionen fernab Bogotás Wähler geben, die sich gegen die traditionelle Praxis des Stimmenkaufs und der tief verwurzelten lokalen Korruption stellen wollen. Sie sind auf der Suche nach neuen demokratischen Wegen in der Politik – und viele davon werden sich Petro zuwenden, in der Hoffnung, dass er den Status quo ändern wird.“

Die konkurrierenden Präsidentschaftskandidaten 2022 unterscheiden sich stark in ihren Auffassungen, wie sie die viertgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas steuern wollen. Die kolumbianische Wirtschaft ist von Rohstoffen abhängig, insbesondere von Erdöl, das etwa die Hälfte der gesamten Ausfuhren ausmacht. Diese Situation macht das Land anfällig für Preisschocks. In Verbindung mit der tiefen Kluft zwischen Arm und Reich folgt daraus für manche Beobachter ein hohes Potenzial für soziale Unruhen. Petro hat sich in der Vergangenheit immer wieder gegen den von Präsident Duque verfolgten Kurs der Energiegewinnung entlang der kolumbianischen Küste ausgesprochen. Stattdessen möchte er Kolumbien zu einem Vorreiter der Energiewende machen, die Ölförderung perspektivisch einstellen und die Einnahmen aus fossilen Brennstoffen durch Einnahmen aus erneuerbaren Energien und anderen Sektoren ersetzen.

Politische Beobachter setzen den kolumbianischen Urnengang in einen breiteren Kontext. Einige sehen darin einen Test für das Aufkeimen einer zweiten sogenannten rosa Welle in Lateinamerika. Eine Reihe linker Wahlsiege auf dem südamerikanischen Kontinent zu Beginn des 21. Jahrhunderts führte zu dieser Begriffsbildung. Zu den jüngsten Wahlen, bei denen sich linke Politiker durchsetzen konnten, gehörten Ende 2021 die Wahl von Gabriel Boric in Chile und die Machtübernahme von Xiomara Castro in Honduras. Gespannt auf die Entwicklung dieses Trends richten sich die Augen nicht nur auf die historische Wahl in Kolumbien, sondern auch schon auf die Wahlen im November in Brasilien.

 

Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.

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