Kaum Chancen auf Zustimmung: Chile stimmt erneut über seine Verfassung ab
Die Chilenen gehen an die Urnen, um über den neuesten Verfassungsentwurf zu entscheiden. Es ist die fünfte Abstimmung in einem seit vier Jahren andauernden, schwierigen Prozess. Aber was sagt das Gerangel um die Verfassung der Pinochet-Ära über den Zustand der chilenischen Demokratie aus?
Am 17. Dezember 2023 stimmen die Chilenen über einen neuen Verfassungsentwurf ab, nachdem der erste vor über einem Jahr abgelehnt wurde. Sollte auch dieser Entwurf scheitern, wie es die Umfragen derzeit vorhersagen, wird der Prozess vorerst beendet: Präsident Gabriel Boric hat signalisiert, dass ein dritter Anlauf nicht vor Ende seiner Amtszeit 2025 stattfinden wird.
Der ins Stocken geratene Verfassungsprozess entspricht dem Bild der Chilenen als „unzufriedenen Demokraten“: Sie glauben zwar an die Demokratie, sind mit den Ergebnissen aber unzufrieden. Die Chilenen haben versucht, eine neue Verfassung mit demokratischen Mitteln zu erarbeiten, nämlich durch Referenden und gewählte, beratende Gremien. Die entstandenen Dokumente haben die Erwartungen der Wähler an sozialen und wirtschaftlichen Wandel jedoch nicht erfüllt.
Nicht erfüllte soziale Forderungen
Auslöser für den Verfassungsprozess waren die lähmenden sozialen Proteste im Oktober 2019. Dreißig Jahre Demokratie hatten zwar zu politischer Stabilität und wirtschaftlichem Wachstum geführt, doch deren Errungenschaften waren ungleich verteilt. Die Pinochet-Diktatur (1973–1990) hatte das unerschütterliche Bekenntnis des Landes zu den Prinzipien der freien Marktwirtschaft festgeschrieben. Die darauffolgenden demokratisch gewählten Regierungen ließen dieses neoliberale Modell weitgehend unangetastet.
Wie der Bertelsmann-Transformationsindex (BTI) für Chile aus dem Jahr 2022 feststellt, hat die soziale Schichtung Chancengleichheit und wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten behindert. Damals wie heute kontrollieren etwa zehn Prozent der Chilenen ein Drittel des Reichtums des Landes. Angesichts dessen heißt es im BTI-Bericht: „In allen Bereichen der Gesellschaft muss eine ernsthafte Debatte darüber geführt werden, wie Ungleichheit verringert und wie soziale Rechte sowie universelle Mindeststandards auf fiskalisch nachhaltige Weise gewährleistet werden können.“
Die Frustration über die anhaltende Ungleichheit trieb verschiedene Gruppen von Protestierenden auf die Straße, darunter Studierende, Rentner, Arbeiter, indigene Bevölkerungsgruppen und Feministinnen. Schon lange fühlten sich die Chilenen von den traditionellen Parteien nicht mehr repräsentiert. Wie der BTI zeigt, hat die Identifikation mit den Parteien und das Vertrauen in sie in den 2000er und 2010er Jahren stetig abgenommen. Die Protestierenden forderten einmütig eine neue Verfassung, weil die üblichen Politiker und die üblichen punktuellen politischen Veränderungen ihren Anliegen nicht mehr gerecht wurden.
Mit dem Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung vom 15. November 2019 wurde ein Verfassungsprozess eingeleitet, der sich auf demokratische Praktiken und Institutionen stützen sollte. Durch die Einbeziehung der Perspektiven aller Chilenen hatten die politischen Eliten die Chance, die Repräsentationskrise des Landes zu lösen und die Legitimität wiederherzustellen.
Ein enttäuschender erster Versuch
Doch dazu kam es nicht.
Beim ersten Referendum im Oktober 2020 wählten rund 80 Prozent der Chilenen die Delegierten, die eine neue Verfassung schreiben sollten. Im Mai 2021 wählten sie zur Besetzung des Konvents überwiegend Neulinge und Außenseiter. Die meisten der 155 Delegierten hatten noch nie für ein gewähltes Amt kandidiert, geschweige denn ein solches bekleidet. Sie stammten mehrheitlich aus dem linken Lager und waren sozialen Bewegungen stärker verbunden als traditionellen Parteien. Aufgrund der Geschlechterparität entfiel die Hälfte der Sitze auf Frauen; 17 Sitze (knapp 11 Prozent) waren indigenen Bevölkerungsgruppen vorbehalten.
Diese Versammlung von Progressiven und Reformisten entwarf eine neue Charta mit weitreichenden sozialen und wirtschaftlichen Rechten (während das Wahlsystem und die politischen Institutionen Chiles weitgehend intakt blieben). Als jedoch im September 2022 die Volksabstimmung anstand, führten getrübte Konjunkturaussichten in Verbindung mit rechter Panikmache zum Scheitern der Charta. Fake News und Desinformation beherrschten die Kampagne, die Wähler mit überzogenen Worst-Case-Szenarien konfrontierte. Gegner des Entwurfs behaupteten zum Beispiel, die neue Verfassung werde Privateigentum verbieten und indigenen Gruppen die Vorherrschaft über „normale“ Chilenen geben.
Als 62 % der Chilenen diesem Entwurf eine klare Absage erteilten, akzeptierten die sozialen Bewegungen das Ergebnis. Zudem einigten sich die Parteien – ein weiterer Beweis für das Vertrauen in demokratische Verfahren – auf einen zweiten Verfassungsprozess, diesmal allerdings mit mehr Leitplanken. Eine 24-köpfige „Expertenkommission“, gewählt von der Mehrheit der Kongressabgeordneten, erarbeitete den ersten Entwurf. Ein 50-köpfiger gewählter Rat – paritätisch mit ebenso vielen Frauen wie Männern besetzt, aber ohne gesonderte Sitze für indigene Kandidaten – überarbeitete die Vorlage.
Ein ebenso enttäuschender zweiter Versuch
Diesmal kam es zu einem Erdrutschsieg der Rechten. Die 2019 gegründete ultrarechte Partido Republicano gewann 23 Sitze. Ihr Vorsitzender, José Antonio Kast, ein offener Bewunderer Pinochets, verurteilt Einwanderer, propagiert ein „hartes Vorgehen“ gegen Straftäter und lehnt Abtreibung und die Homo-Ehe ab.
Die Argumente, die jetzt gegen den zweiten Entwurf der Charta vorgebracht werden, entsprechen spiegelbildlich jenen, die gegen den ersten gerichtet waren. Mainstream- und rechtsgerichtete Kommentatoren hatten den ersten Entwurf als zu weit links kritisiert und bemängelt, er repräsentiere nicht die normalen Chilenen. Jetzt behaupten viele, der aktuelle Entwurf tendiere zu weit nach rechts, sehe ein begrenztes Engagement des Staates bei den Sozialausgaben vor und schreibe traditionelle Familienformen fest. Im Falle einer Verabschiedung befürchten viele, die jüngsten, mühsam errungenen Erfolge, die die reproduktiven Rechte von Frauen und die Rechte von Homosexuellen erweitert haben, könnten wieder aufgehoben werden.
Egal, welche Interpretation richtig ist – die Umfragen belegen die Frustration der Wähler. Geschätzten 52 bis 60 Prozent gefällt der zweite Verfassungsentwurf offenbar nicht besser als der erste.
Demokratie ohne Repräsentation
Demokratietheoretiker stellen seit langem die Frage: Geht es bei der Demokratie um Verfahren oder um Inhalte? Was die Verfahren angeht, scheint das politische System Chiles stark zu sein. Die verschiedenen politischen Gruppierungen des Landes suchen immer noch mit demokratischen Mitteln nach einem Konsens.
Doch wenn Verfahren allein keine demokratische Legitimität gewährleisten können – wenn die Wähler irgendwann Ergebnisse brauchen, an die sie glauben –, dann ist die Zukunft Chiles weiter ungewiss. Vier Jahre, fünf Wahlen und drei beratende Gremien später wird in Chile wahrscheinlich weiter die Verfassung aus der Zeit der Diktatur gelten. Weder beim ersten noch beim zweiten Entwurf gelang es, mehrheitsfähige wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen zu schaffen.
Da die demokratischen Verfahren immer noch nicht zu einer allgemein akzeptablen Politik führen, bleibt die Krise der Repräsentation – der Auslöser der sozialen Revolte von 2019 – weiter ungelöst. In einer aktuellen Umfrage wurden die Wähler gefragt, mit welcher der vierzehn möglichen Parteien sie sich identifizieren. Kasts Partei erhielt die meisten Stimmen – spärliche zehn Prozent. Sechzig Prozent der Befragten wählten „keine“.
Wie diese Zahlen andeuten, konnte der Verfassungsprozess die Unzufriedenheit der Wähler nicht umkehren; auch ist es nicht gelungen, die Legitimität von Parteien als Träger der Repräsentation wiederherzustellen. Diese Defizite stellen langfristige Probleme für die Demokratie dar und machen enttäuschte Bürger besonders anfällig für extremistische Botschaften – selbst wenn Figuren wie Kast Visionen von Recht und Ordnung formulieren, die eher an eine Diktatur als an Demokratie erinnern. Die Frage ist also, wie lange unzufriedene Demokraten Demokraten bleiben.
Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Claudia Kotte.