Wirtschaftliche Folgen der Coronavirus-Pandemie für Entwicklungs- und Schwellenländer
Die Ausbreitung des Coronavirus verursacht weltweit enorme sozioökonomische Schäden, insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern. In diesem Beitrag untersuchen und diskutieren wir einige der wichtigsten wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie in diesen Ländern.
Wirtschaftliche Folgenschätzung
Auf den ersten Blick scheint es, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie in den Entwicklungs- und Schwellenländern weniger schwerwiegend als im Rest der Welt sein werden. Im April 2020 veröffentlichte der Internationale Währungsfonds (IWF) Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung der verschiedenen Regionen der Welt für das Jahr 2020. Für die Weltwirtschaft wird ein Rückgang des realen, d.h. inflationsbereinigten Bruttoinlandsprodukts (BIP), um drei Prozent erwartet. In den entwickelten Volkswirtschaften wird der erwartete Rückgang des BIP sogar sechs bis sieben Prozent betragen. Für die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer wird der Rückgang der realen Wirtschaftsleistung jedoch voraussichtlich geringer ausfallen. Für die aufstrebenden Märkte in Asien ist sogar ein moderates Wirtschaftswachstum absehbar. In Lateinamerika hingegen wird eine tiefere Rezession mit einem Rückgang von 5,2 Prozent erwartet.
Bei der Betrachtung dieser Zahlen ist zu bedenken, dass die Wachstumsraten – insbesondere in den afrikanischen und asiatischen Volkswirtschaften – 2019 höher waren als in den entwickelten Volkswirtschaften (siehe Abbildung 1). Dennoch schneiden die Entwicklungs- und Schwellenländer im Vergleich zum Rest der Welt immer noch relativ gut ab. Während der Unterschied zwischen den Wachstumsraten in den Jahren 2019 und 2020 weltweit 5,9 Prozentpunkte beträgt, beträgt er beispielsweise in Subsahara-Afrika nur 4,6 Prozentpunkte und in Asien sogar noch weniger. Allerdings darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die sozioökonomischen Auswirkungen für die Entwicklungs- und Schwellenländer dennoch gravierender ausfallen dürften als für die entwickelten Industrienationen.
Einbrechende Exporteinnahmen von Entwicklungs- und Schwellenländern
Die primären wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie ergeben sich aus der hohen Abhängigkeit vieler Volkswirtschaften von Rohstoffexporten. Im Allgemeinen hat der weltweite Wirtschaftsabschwung zu einem Rückgang der Nachfrage nach Rohstoffen, insbesondere nach Öl und Gas, geführt. Die Entwicklungs- und Schwellenländer sind nicht nur mit einer begrenzten Nachfrage nach diesen Exporten konfrontiert, sondern auch mit niedrigeren Rohstoffpreisen auf den Weltmärkten. Dieser Einbruch der Exporteinnahmen führt zu einer Ausweitung der Leistungsbilanzdefizite und einer steigenden Auslandsverschuldung. Für viele Länder bedeutet dies auch staatliche Haushaltskürzungen, da diese stark von Rohstoffexporten abhängig sind. Diese Kürzungen bedeuten wiederum weniger Mittel für Bildung, Infrastruktur und andere grundlegende Ressourcen für langfristiges Wirtschaftswachstum.
Der Kapitalabzug durch Industrieländer schwächt Kaufkraft und Wettbewerbsfähigkeit
Zusätzlich zu den beeinträchtigten Rohstoffmärkten sind die Währungen vieler Entwicklungs- und Schwellenländer von einer Abwertung bedroht, da Investoren aus den Industrieländern nach und nach ihr Kapital abziehen. Ohne ausländisches Kapital wird es für verschuldete Entwicklungs- und Schwellenländer immer schwieriger werden, neue Kredite zur Finanzierung ihrer Leistungsbilanzdefizite und dringend benötigter Investitionen zu erhalten.
Wenn diese Länder weniger exportieren und gleichzeitig Investoren ihr Kapital abziehen, sinkt die Nachfrage nach Landeswährung, was zu Währungsabwertungen führt. Importierte Produkte des Grundbedarfs für Entwicklungs- und Schwellenländer müssten daher zu höheren Preisen eingekauft werden, was einen Kaufkraftverlust für die inländischen Verbraucher bedeutet. Für den Fall, dass lebensnotwendige Güter, wie Medikamente und Lebensmittel, nicht mehr bezahlt und importiert werden können, kann es zu Versorgungsengpässen kommen.
Wenn viele Produkte importiert werden müssen, steigen ihre Preise und damit auch die Gesamtinflationsrate. In der Folge verliert das Land aufgrund höherer Produktionskosten an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, was zu einem weiteren Rückgang seiner Exporte, einer zusätzlichen Abwertung und damit zu erneut steigenden Preisen führt. Wenn diese Abwärtsspirale ungebremst verläuft, besteht im Extremfall die Gefahr einer Hyperinflation. Schließlich führt das Zusammenspiel von Kapitalabzug, Abwertungstendenzen, steigender Inflation und wachsender Auslandsverschuldung zu einer Verschlechterung der Kreditwürdigkeit.
Wirtschaftliche Folgen der Ausbreitung des Coronavirus in Entwicklungs- und Schwellenländern
Alle bisher skizzierten negativen wirtschaftlichen Auswirkungen betreffen Entwicklungs- und Schwellenländer, selbst wenn es dort keine einzige Coronavirus-Infektion gäbe. Gleichwohl stellt der Ausbruch in diesen Ländern eine zusätzliche und massive sozioökonomische Belastung dar. Die Notwendigkeit der sozialen Abstandshaltung, Produktionsstilllegungen und Einschränkungen für Unternehmen stellen Entwicklungs- und Schwellenländer vor größere Herausforderungen als entwickeltere Volkswirtschaften. Weltweit haben die wirtschaftlichen Verlangsamungen der letzten Monate zu Produktionsausfällen, geringeren Einnahmen für Unternehmen und sogar zu Versorgungsengpässen für die Verbraucher geführt. Im Gegensatz zu vielen Industrieländern verfügen die Regierungen in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern nicht über die wirtschaftlichen oder sogar politisch-administrativen Kapazitäten, um Menschen in Not durch Transferzahlungen zu unterstützen, Unternehmen mit Krediten zu versorgen oder Konjunkturpakete zu finanzieren.
Fehlende sozialstaatliche Absicherung verschärft die Auswirkungen der Krise
Neben dem Mangel an fiskalpolitischen Optionen zur Finanzierung der Kriseneindämmung und zur Förderung der wirtschaftlichen Erholung gibt es zwei weitere problematische Aspekte, die eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung in vielen Ländern unwahrscheinlich machen:
Zum einen ist die medizinische Infrastruktur in den meisten Ländern so schwach entwickelt, dass ihre Kapazitäten selbst bei einer moderaten Infektionsrate sehr schnell überfordert sein werden. So hat zum Beispiel das im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern vergleichsweise gut entwickelte Gesundheitssystem Südafrikas selbst unter normalen Bedingungen mit über sieben Millionen HIV-infizierten Menschen bereits seine Kapazitätsgrenze erreicht. In anderen Ländern hat die schnelle Verbreitung des Virus die Kapazität des Gesundheitssystems bereits überfordert. Dies ist beispielsweise in Indien der Fall, wo öffentliche Krankenhäuser in Mumbai oder Delhi nicht mehr in der Lage sind, am Coronavirus erkrankte Patienten aufzunehmen.
Angesichts des Mangels an hygienischen, sozialräumlichen und steuerungspolitischen Kapazitäten in den meisten Ländern kann die Infektionsrate nach Ausbruch der Epidemie nur schwer unter Kontrolle gehalten werden. Das Beispiel Indiens, wo Millionen von Wanderarbeitern das Virus aus den überfüllten Städten zurück in ihre Dörfer tragen, zeigt, dass angesichts des täglichen Überlebenskampfes der Ruf nach „sozialem Abstand“ ungehört verhallen muss.
Ein Leben an oder unterhalb der Armutsgrenze zählt für die meisten Menschen in Entwicklungsländern zum Alltag. Im aktuellen Transformationsindex BTI der Bertelsmann Stiftung weisen 76 von 137 Ländern ein sehr niedriges sozioökonomisches Entwicklungsniveau auf. So sind in mehr als der Hälfte aller im BTI 2020 untersuchten Länder Armut und Ungleichheit weit verbreitet und weisen fest verankerte Ausgrenzungsmuster auf. Trotz eines generellen Rückgangs der extremen Armutsraten hat die soziale Ungleichheit in den letzten zehn Jahren zugenommen. Dieser problematische Trend wird sich noch verschärfen, wenn die Preise steigen und das Angebot an Gütern des Grundbedarfs knapp wird, insbesondere in Ländern mit einem großen informellen Sektor und damit einer hohen sozialen Verwundbarkeit der prekär Beschäftigten. Insofern wird sich die Pandemie zu einer globalen Sozialkrise noch ungeahnten Ausmaßes auswachsen.
Fazit und Ausblick
Viele Entwicklungs- und Schwellenländer befanden sich bereits vor dem Ausbruch des Coronavirus in einer problematischen wirtschaftlichen Situation. Die Pandemie verschärft diese Situation durch sinkende Rohstoffpreise, rückläufige Exporte, wachsende Auslandsverschuldung, einen Kapitalabzug, der die Abwertung begünstigt (siehe Abbildung 2), sowie durch Produktions- und Beschäftigungsverluste, die zu Versorgungsengpässen führen können.
Daraus ergibt sich ein Dilemma: Gerade in der Pandemiezeit sind viele Entwicklungs- und Schwellenländer auf finanzielle Mittel aus den entwickelten Volkswirtschaften angewiesen, um dringend benötigte Produkte aus dem Ausland beziehen zu können. Dazu gehören nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch medizinische Hilfsgüter. Gleichzeitig ziehen aber die Industrieländer ihr Kapital aus diesen Regionen ab. Zudem nimmt ihre Bereitschaft zur Kreditvergabe aufgrund der abnehmenden Kreditwürdigkeit der Entwicklungs- und Schwellenländer ab.
Letztlich sind die Entwicklungs- und Schwellenländer aber dringlich auf finanzielle Unterstützung durch die Industrieländer angewiesen. Ohne diese Hilfe steht eine humanitäre Katastrophe unmittelbar bevor. Dies gilt insbesondere für die meisten afrikanischen Länder. Wenn Afrika mit seinen medizinischen und wirtschaftlichen Problemen allein gelassen wird, dürfte dies auch den Migrationsdruck erheblich erhöhen. Dies wiederum könnte die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kapazitäten Europas überfordern.
Die Unterstützung von Entwicklungs- und Schwellenländern bei der Lösung medizinischer und wirtschaftlicher Herausforderungen ist daher nicht nur ein humanitäres Gebot und ein multilaterales Desiderat, sondern liegt auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der europäischen Staaten – auch wenn sie angesichts der Pandemie selbst vor enormen Problemen stehen.
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Bibliografie
Hartmann, Hauke (2020). „Hohe Krisenanfälligkeit: Die Ergebnisse des BTI 2020 im Zeichen der Corona-Pandemie“. Policy Brief 2020/01. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. https://www.bti-project.org/content/de/downloads/presse/Policy_Brief_2020-01_DE.pdf. Abruf am 05.06.2020.
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