Autokratisierung und der Niedergang internationaler Zusammenarbeit
Die letzten zehn Jahre waren keine gute Zeit für die Demokratie weltweit. Der Aufstieg des rechtsautoritären Populismus und die Verhärtung autokratischer Herrschaft haben deutliche Spuren hinterlassen. Für 137 Entwicklungs- und Schwellenländer und damit vier Fünftel der Weltbevölkerung zeichnet der Transformationsindex BTI der Bertelsmann Stiftung diese Entwicklung nach. Dazu stellen wir mehr als 5.000 Seiten Länderanalysen und ein umfangreiches Datenpaket zur Verfügung.
Aber manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte. Deshalb freuen wir uns, unsere Ergebnisse durch kreative und pointierte Visualisierungen zu ergänzen, die von unseren Kolleg:innen der Bertelsmann Foundation of North America erstellt wurden. Ihr neuester, vierter Band der Graphic Images-Reihe widmet sich der Darstellung autokratischer Verhältnisse in China, Iran und Russland, basierend auf den Daten des BTI 2022. Wir sind insbesondere Irene Braam und Tony Silberfeld für diese großartige transatlantische Zusammenarbeit dankbar.
Die politische Regression weltweit geht auf drei Faktoren zurück:
In 39 Ländern ist der politische Transformationsstand binnen einer Dekade deutlich gesunken, um mehr als 0,75 Punkte auf der BTI-Zehnerskala. Auch ehemals als gefestigt angesehene Demokratien wie Brasilien, Indien, Ungarn, Polen oder Serbien befinden sich darunter und werden heute als defekte Demokratien mit ausgeprägten rechtsstaatlichen und partizipativen Mängeln bewertet. Eklatantes Missmanagement und nicht eingehaltene Versprechen wirtschaftlicher und sozialer Teilhabe waren häufig der Grund für Wähler:innen, auf die populistische oder ethnonationalistische Karte zu setzen.
Für einige vormalige Demokratien allerdings führte der Weg noch weiter bergab. Trauriger Spitzenreiter: die Türkei, die Anfang des letzten Jahrzehnts noch als Hoffnungsträger galt, politischen Islamismus und Demokratie miteinander zu verbinden, und die mit einem einschneidenden Minus von 2,85 Punkten nun als Autokratie eingeordnet wird. Ein weiteres Dutzend von Ländern sind diesem Pfad zur Autokratie gefolgt. Waren vor zehn Jahren 44 Prozent der vom BTI untersuchten Länder autokratisch, so sind es heute 51 Prozent. Schwere rechtsstaatliche Defizite haben in den meisten dieser Fälle erst eine Machtballung in der Exekutive und dann den Abbau von politischen Beteiligungsrechten ermöglicht.
Mehr noch: auch die Zahl der harten Autokratien, in denen die Gewaltenteilung komplett ausgehebelt ist und politische Beteiligungsrechte auf ein Minimum beschränkt sind, erhöhte sich auf 44 Länder, so dass nahezu ein Drittel aller 137 untersuchten Länder repressive und diktatorische Zustände aufweist. Oft war die autokratische Verhärtung eine Gegenreaktion gegen Legitimitätsschwäche aufgrund von grassierender Korruption, mangelndem sozioökonomischen Fortschritt oder demokratischer Bewegungen, jüngstes Beispiel Belarus.
Das autoritäre Narrativ
Demokratieabbau und autoritäre Verhärtung funktionieren nicht ohne Propaganda. Populist:innen bemühen den selbstproklamierten Volkswillen, gesellschaftliche Spaltungen entlang ethnischer oder religiöser Linien werden instrumentalisiert und vertieft, und in Autokratien wie China wird gezielt ein Narrativ bemüht, das die zerstrittene, von Partikularinteressen geleitete und schwerfällige Demokratie mit effizienten und zielsicheren Modernisierungsdiktaturen zum eigentlichen Wohl des Volkes kontrastiert.
Es gilt, dieses Narrativ ernst zu nehmen, denn es greift eine verbreitete Unzufriedenheit von Bevölkerungen gerade in defekten, anfälligen Demokratien auf, die nicht selten mit schwacher Gewaltenteilung und korrupten Eliten zu kämpfen haben. Der BTI misst seit Jahren eine abnehmende Zustimmung zur Demokratie, weniger hinsichtlich demokratischer Normen und Werte, aber hinsichtlich der Leistungsstärke demokratischer Institutionen und der Repräsentativität demokratischer Prozesse.
In Benin initiierte Präsident Patrice Talon eine Wahlrechtsreform, die die entscheidungslähmende Fragmentierung des Parteiensystems beseitigen sollte. Nun sind nur noch zwei Parteien im Parlament vertreten, die beide den Präsidenten unterstützen. In El Salvador wurde Präsident Nayib Bukele als Alternative zur festgefahrenen Polarisierung zwischen linken und rechten Parteien gewählt. Nun polarisiert er in Geringschätzung verfassungsmäßiger Verfahren selbst und erfährt für seinen populistisch-autoritären Kurs große Zustimmung. Auf den Philippinen versprach Präsident Rodrigo Duterte, endlich mit Korruption und Drogenkriminalität aufzuräumen. Trotz massiver Menschenrechtsverletzungen und einer Militarisierung der Politik bleibt er populär. In Tunesien setzte Präsident Kais Saied die Regierung ab und beurlaubte das Parlament. Dies richtete sich gegen die islamistische Ennahda als stärkster Fraktion, doch er stellte dies erfolgreich als überparteilichen Schritt gegen institutionelle Untätigkeit und Cliquenwirtschaft dar.
Mehr Effizienz, so also das autoritäre Narrativ, durch Demokratieabbau. Nach Jahren und Jahrzehnten elitärer Statussicherung und Misswirtschaft in vielen Ländern gibt es ein ungeduldiges Bedürfnis nach guter Regierungsführung und funktionierender Demokratie. Autoritäre Politiker:innen machen sich diese Unzufriedenheit und Frustration zunutze, indem sie vorgeben, den gordischen Knoten aus institutionellen Blockaden und elitärer Reformfeindlichkeit durchschlagen zu können, anstatt ihn auf demokratischem Wege zu lösen. Sie behaupten, dass die Gewaltenteilung und die Garantie der Grundrechte einer effizienten Regierungsführung untergeordnet sind. Höchste Zeit also, einen Blick darauf zu werfen, wie effizient es in der autoritären Hälfte der Welt zugeht.
Der Mythos autoritärer Effizienz
Wenn alle 70 Autokratien dieser Welt ein einziges Land wären, dann wäre es hinsichtlich des durchschnittlichen politischen Transformationsstands mit 3,68 von 10 Punkten im BTI 2022 in etwa auf dem Niveau von Nicaragua, ohne freie Wahlen und mit systematischen Menschenrechtsverletzungen. Unter den 62 Ländern, in denen laut BTI grundlegendste Menschenrechte von Freiheitsschutz und körperlicher Unversehrtheit regelmäßig und umfassend verletzt werden, befinden sich 58 Autokratien. In 61 Ländern wird der öffentliche Diskurs manipuliert, verzerrt oder freie Meinungsäußerung gleich gänzlich verboten, darunter 59 Autokratien. Von wenigen Ausnahmen wie Kenia oder Singapur abgesehen, sind autokratische Regime nur in der Unterdrückung effizient.
Zunehmend repressiv: Viele Autokratien wie China nutzten die COVID-19-Pandemie als Vorwand, um das Recht auf freie Meinungsäußerung weiter einzuschränken.
Da autokratische Herrschaft kein demokratisches Mandat hat, ist sie darauf angewiesen, ihre Legitimität durch gesellschaftliches Wohlergehen wie wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Integration zu erlangen. Auch hier fällt die Bilanz trübe aus. Das autoritäre Durchschnittsland erreicht mit 4,33 von 10 Punkten im BTI 2022 in etwa den wirtschaftlichen Entwicklungsstand von Laos, mit seit Jahren sinkenden Wachstumsraten, steigender sozialer Ungleichheit, verzerrtem Wettbewerb und mangelndem Schutz von Privateigentum. Unter den 63 Entwicklungsländern mit der größten Armut und der stärksten Ungleichheit werden drei Viertel autokratisch regiert. Von wenigen Ausnahmen wie Katar und Singapur abgesehen, sind autokratische Regime nur im Klientelismus effizient.
Nicht leistungsfähig: Viele Autokratien wie Russland sind vom Export abhängig und unterliegen der Volatilität von Nachfrage und Preisen.
Auch die These, dass autokratischen Regimen hinsichtlich ihrer Regierungsleistungen ein Systemvorteil durch kompromisslose Prioritätensetzung, rigorose Umsetzung und zentralisierte Politikkoordination zukommt, bestätigt sich in den Untersuchungen des Transformationsindex nicht. Die durchschnittliche Governance der 70 Autokratien bewegt sich im BTI 2022 auf dem Niveau von Nigeria, einem korrupten und steuerungsunfähigen Regime, das weder im Energiesektor noch beim Ausbau der Infrastruktur erfolgreich ist, unkoordiniert vorgeht und die Sicherheitslage im Norden des Landes nicht in den Griff bekommt.
Insgesamt klafft zwischen Demokratien und Autokratien eine erhebliche Effizienz- und Steuerungslücke. Statt im Sinne einer propagierten, gut funktionierenden Entwicklungsdiktatur zügig und effektiv agieren zu können, fällt die autokratische Politikkoordination gegenüber Demokratien ab (-1,69), der Einsatz verfügbarer Ressourcen ist deutlich ineffizienter (-1,85) und die Diskrepanz zwischen autokratischer und demokratischer Antikorruptionspolitik ist besonders groß (-2,14). Auch die Fähigkeit der Politikgestaltung, also das Setzen von strategischen Prioritäten, die Umsetzung der Regierungsagenda sowie die Flexibilität und Lernfähigkeit ist in Autokratien erheblich schwächer ausgeprägt (-1,91).
Absichtlich überlastet: Viele Autokratien wie der Iran haben klientelistische Regime errichtet und bekämpfen die Korruption nicht.
Mehr Repression nach innen, mehr Aggression nach außen
Demokratieabbau und schlechtere Regierungsführung gehen Hand in Hand. Dies gilt insbesondere für die inklusiven Governance-Aspekte, die heimische Konsensbildung und die internationale Zusammenarbeit. Im innenpolitischen Bereich ist dies unmittelbar nachvollziehbar. Werden Minderheiten durch einen ethnonationalistischen Diskurs wie in Indien oder Sri Lanka ausgegrenzt, Regierungskritiker:innen wie auf den Philippinen kriminalisiert und die gesellschaftliche Polarisierung durch populistische Regierungen wie in Brasilien oder Ungarn vorangetrieben, dann werden deeskalierende gesamtgesellschaftliche Verständigungsprozesse schwerer. Dies gilt noch einmal mehr im Falle autoritärer Verhärtungen wie in China, im Iran oder in Russland.
Wesentlich ist allerdings, dass innenpolitische Repression und außenpolitische Repression zwei Seiten derselben Medaille von autoritären Regimen unter Druck sind. Die innenpolitische Unterdrückung oppositioneller Stimmen wie des Regimekritikers Alexei Nawalny und der Menschenrechtsorganisation Memorial in Russland findet ihre außenpolitische Entsprechung im Angriffskrieg gegen die Ukraine. Hier geht es weniger um die Sorge vor einer etwaigen NATO-Erweiterung, sondern um die Furcht vor einer demokratischen und erfolgreichen Ukraine, die auch Demokrat:innen und Reformer:innen in Russland ermutigen könnte. Der Iran verfolgt in Innen- wie Außenpolitik einen unnachgiebigen und rücksichtslosen ideologischen Kurs, der in strikter Zurückweisung westlicher Einflüsse zuhause die Theokratie festigen und international Glaubensbrüder stärken soll. Das chinesische Großmachtstreben duldet keinen Widerspruch. Innenpolitisch darf die führende Rolle der Kommunistischen Partei nicht in Frage gestellt werden, weder regional durch Uigur:innen und Tibetaner:innen, noch durch Regimekritiker:innen. Außenpolitisch steigern sich auch die Drohgebärden gegen Taiwan, dessen erfolgreiche demokratische Regierung dem Regime in Peking ein ähnlicher Dorn im Auge ist wie dem Regime in Moskau eine demokratische Ukraine.
Der Vorhang fällt: In vielen Autokratien wie China gehen zunehmende interne Unterdrückung und steigende externe Aggression Hand in Hand.
Die Lücke zwischen Demokratien und Autokratien, die bereits für Effizienz und Steuerung festgestellt wurde, ist bei der internationalen Zusammenarbeit noch größer, da autokratische Regime internationale Unterstützung weniger effektiv nutzen (-2,22), Vereinbarungen weniger glaubwürdig einhalten (-2,45) und bei der regionalen Zusammenarbeit weniger zuverlässig und friedlich sind (-2,08). Möglicherweise haben wir nicht nur die liberalisierende Wirkung der zunehmenden internationalen Verflechtung überschätzt. Ebenso wenig haben die Unterstützung und Einbeziehung autoritärer Regime zu einer friedlicheren und besseren internationalen und regionalen Zusammenarbeit geführt.
Daraus können demokratische Gesellschaften, die für internationale Zusammenarbeit und Multilateralismus eintreten, drei Lehren ziehen:
Erstens sind Autokratien in den internationalen Beziehungen weniger zuverlässig und friedlich. Da systembedingte Zwänge ein Festhalten an der Macht um jeden Preis erfordern, muss innenpolitische Repression mit der Beschneidung jeglichen liberalisierenden ausländischen Einflusses einhergehen, und die Einhaltung internationaler Vereinbarungen wird zweitrangig.
Zweitens bedarf es einer stärkeren und klarer werteorientierten Zusammenarbeit der demokratischen Staaten, um der Erosion der internationalen Kooperation entgegenzuwirken. Das bedeutet auch, der Aushöhlung demokratischer Standards in den eigenen Reihen entschiedener entgegenzutreten.
Drittens muss die Unterstützung autoritärer Regierungen auch unter sicherheits- und verteidigungspolitischen Gesichtspunkten auf den Prüfstand gestellt werden. Es muss klarer unterschieden werden zwischen dem gegenseitigen Vertrauen bei der Zusammenarbeit demokratischer Staaten und der aufmerksamen Überwachung von Vereinbarungen mit autoritären Regimen.
Letztlich agieren Autokratien trotz ihres scheinbar selbstbewussten und entschlossenen Auftretens aus der Defensive heraus. Das macht sie umso gefährlicher.
Dieser Artikel wurde ebenfalls von der Bertelsmann Foundation of North America veröffentlicht.