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Demolition of the Lenin-Monument in Jurmala City. Photo by Boriss Kolesnikovs/The Latvian Institute

Hundert Jahre Einsamkeit: Lettland feiert seine Unabhängigkeit

Noch immer kämpfen die baltischen Staaten um internationale Aufmerksamkeit. 100 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung ist in Lettland die Angst, von Russland geschluckt zu werden, groß. Dagegen hilft nur eines: verlässliche Beziehungen zu knüpfen.

In einem Moment der Selbsterkenntnis sagte der Leiter der estnischen Delegation, Kaarel Robert Pusta, auf der Pariser Friedenskonferenz 1919: „Wir sind unbekannte Männer aus einem unbekannten Land.“ Ohne Zweifel teilten seine südlichen Nachbarn aus Lettland, die ebenfalls in der französischen Hauptstadt die internationale Anerkennung ihres Staates einforderten, das frustrierende Gefühl, für die Großmächte unsichtbar zu sein. Seit jeher fremdbestimmt durch die katholische Kirche und den Deutschen Orden, das Großherzogtum Polen-Litauen und das Königreich Schweden, das russische Reich und die baltisch-deutsche Aristokratie, erklärte Lettland am 18. November 1918 seine Unabhängigkeit. Weil die baltischen Länder zum Terrain des russischen Bürgerkriegs und Testfeld revanchistischer deutscher Interessen wurden, mussten die neu ernannten Diplomaten der baltischen Länder die Siegermächte des Ersten Weltkriegs davon überzeugen, dass ihre kleinen Länder mehr waren als lediglich russische Provinzen und sie wie die alten europäischen Nationen Selbstbestimmung verdienten. Zwei Jahre mit militärischen Auseinandersetzungen und weitere zwei Jahre mit geschickter Diplomatie vergingen, bevor Lettland und Estland die Kontrolle über ihre Grenzen erlangten und international anerkannt wurden.

Hundert Jahre später feiern Lettland und die anderen beiden baltischen Staaten die Jahrestage ihrer Republiken, doch ein bitterer Beigeschmack trübt die Feierlichkeiten. Einerseits gibt es viele Gründe, sich zu freuen: 27 Jahre nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit steht Lettland kurz vor dem Abschluss eines erfolgreichen Übergangsprozesses in die Demokratie. Der 2018 veröffentlichte Länderbericht des Bertelsmann Stiftung Transformationsindex (BTI) bewertet die politische Transformation Lettlands mit 8,75 von 10 möglichen Punkten. Im Vergleich der 129 im BTI evaluierten Transformations- und Schwellenländer belegt Lettland den 8. Platz und erzielt damit eines der besten Ergebnisse im ehemals sozialistischen Block. Der Wermutstropfen ist, dass sowohl Estland auf dem 1. Platz als auch Litauen auf dem 4. Platz noch besser abgeschnitten haben. Der BTI benennt als Probleme Lettlands die Zersplitterung und damit einhergehende Schwäche sowohl der politischen Parteien als auch der Zivilgesellschaft sowie ein allgemeines Misstrauen gegenüber öffentlichen Institutionen. In der Tat besteht die ethnische Teilung zwischen Letten und der Russisch sprechenden Bevölkerung Lettlands, die zum großen Teil während der sowjetischen Besatzung in das Land gekommen ist, weiter fort, eskaliert jedoch bisher nicht auf ein gewalttätiges Niveau. Aufgrund der großen sozioökonomischen Ungleichheit sind rund 300.000 Letten auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen nach Westeuropa ausgewandert. Gleichzeitig bescheinigt der Bericht Lettland eine gesunde und starke Demokratie. Die Stabilität der demokratischen Institutionen erhält die Bestnote 10, die Wahlen sind frei und fair, die gewählten Repräsentanten können effektiv regieren und alle relevanten Akteure wollen an der demokratischen Staatsform festhalten und sie fördern.

Die Geister der Vergangenheit

Angesichts der Tatsache, dass die lettische Demokratie vergleichsweise jung ist, sind diese Ergebnisse um so erstaunlicher. Von den 100 Jahren, die 2018 gefeiert werden, war Lettland tatsächlich nur 47 vollkommen unabhängig und nur 41 uneingeschränkt demokratisch. Durch einen Putsch beendete ein autoritäres Regime 1934 die auf der Verfassung von 1922 gründende parlamentarische Demokratie. Sechs Jahre später wurde das Land erst von der Sowjetunion, dann von Nazideutschland und dann wieder von der Sowjetunion besetzt.

Die traumatischen Erinnerungen an die Besatzungsjahre sind die treibende Kraft hinter der lettischen Außenpolitik seit 1991. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren Letten, wie auch Esten und Litauer, noch immer unbekannte Männer und Frauen aus unbekannten Ländern. Die berühmten Worte des britischen Premierministers Neville Chamberlain in Bezug auf den tschechoslowakischen Kampf gegen Nazideutschland – „Wie unglaublich schrecklich und aberwitzig ist es, von uns hier zu verlangen, Schützengräben auszuheben und Gasmasken aufzuprobieren, nur weil es in einem weit entfernten Land zwischen Menschen kracht, von denen wir nichts wissen.“ – hätten genau so auch in Bezug auf die baltischen Staaten fallen können. Als 1940 die Sowjetunion ein Ultimatum stellte, das in die Besatzung mündete, gab es keine mächtigen Verbündeten oder internationalen Institutionen, denen das baltische Schicksal etwas bedeutet hätte.

Eine Frage der nationalen Sicherheit

Seit 1991 arbeiten die Auswärtigen Dienste von Estland, Litauen und Lettland gezielt darauf hin, dass solch eine Situation sich nie wieder ereignet. Seither sind Lettland und seine baltischen Nachbarn jeder großen westlichen internationalen Organisation beigetreten, eingeschlossen EU und NATO. Als Folge der russischen Aggression in der Ukraine erhöhte Lettland seinen Militärhaushalt auf 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts und lehnte konsequent die Möglichkeit ab, die Gebietsaneignung der Krim als rechtmäßig anzuerkennen. Keine politische Kraft in Lettland, nicht einmal die am stärksten nationalistische oder populistische, fordern gegenwärtig den Austritt aus der EU. Zu Europa zu gehören, ist aus lettischer Sicht eine Frage der nationalen Sicherheit.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Karola Klatt.

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