Was Großbritannien beim Brexit von Tunesiens Konsensfindung lernen kann
Aus Tunesiens Beispiel lassen sich drei wichtige Lehren ziehen, wie eine Gesellschaft mit Polarisierung umgehen kann: Konsens benötigt die Beteiligung gesellschaftlicher Interessen jenseits der gewählten Institutionen; Druck ist hilfreich, nicht schädlich; und es braucht angesehene Persönlichkeiten, um eine Lösung zu vermitteln.
Während eine Brexit-Deadline die nächste jagt, polarisiert das Thema die britische Gesellschaft wie kaum ein anderes seit Jahrzehnten. Das britische Unterhaus hat Premierminister Theresa Mays Deal mehrfach abgelehnt, aber sich nicht auf einen alternativen Ansatz einigen können. Da es nur wenige Tage über Alternativen debattierte, kann das kaum überraschen. Trotzdem ist das Risiko groß, dass ein einseitiges Ergebnis des Brexit-Prozesses das Land für viele Jahre spalten könnte. Man muss sich nur den Zustand der US-Politik ansehen, um zu erkennen wie auch Länder mit vielen Jahrzehnten demokratischer Tradition in die Dysfunktionalität abdriften können.
So unwahrscheinlich es auch klingen mag, Tunesiens junge Demokratie könnte einige interessante Lektionen für eine der ältesten Demokratien haben. Vor nur fünf Jahren hat Tunesien eine Verfassung für die demokratische Zukunft des Landes verabschiedet. Nach dem Sturz des korrupten und autokratischen Ben Ali-Regimes im Jahr 2011 wählte das Land eine Verfassunggebende Versammlung, gab ihr jedoch nur ein Jahr Zeit, um das neue Grundgesetz zu entwerfen. Eine Welle gewalttätiger islamistischer Angriffe und eine Wirtschaftskrise führten zum politischen Stillstand, während sich Regierung und Opposition mit tiefem Misstrauen betrachteten. Tolerierte die von Islamisten geführte Regierung die Extremisten? Versuchte die säkulare Opposition vielleicht, gegen die gewählten Institutionen zu putschen? Im nahen Ägypten eskalierte die Konfrontation zwischen säkularer Opposition und islamistischer Regierung derweil in brutale Gewalt. Mitglieder der tunesischen Verfassunggebenden Versammlung legten ihre Arbeit aus Protest nieder.
Die unerwarteten Ähnlichkeiten
Trotz großer Unterschiede zwischen Tunesien und Großbritannien gibt es einige Gemeinsamkeiten: Der Brexit ist das tiefgreifendste Verfassungsereignis, mit dem sich das Vereinigte Königreich seit Jahrzehnten konfrontiert sieht. Durch die frühzeitige Auslösung von Artikel 50 hat sich das Land viel zu wenig Zeit gelassen, um diese komplexe Herausforderung zu meistern. Die Konfliktlinien in Großbritannien verlaufen nicht so sehr zwischen Regierung und Opposition als vielmehr zwischen den Unterstützern des Brexit und ihren Gegnern in beiden großen Parteien, aber der Patt zwischen beiden Kräften ist real – auch wenn nur wenige glauben, dass dies zu einem Putsch führen könnte.
In Tunesien hat eine Intervention der Zivilgesellschaft den politischen Prozess gerettet. Der Vorsitzende des mächtigen Gewerkschaftsverbandes UGTT drängte Politiker dazu, einen verbindlichen Fahrplan festzulegen, um einen Kompromiss über den politischen Übergang zu finden. In einem Quartett von Organisationen der Zivilgesellschaft – der Arbeitgeberverband, Anwaltsverband, und die Menschenrechtsliga traten auch bei – leiteten die Gewerkschafter dann einen nationalen Dialog zwischen den politischen Kräften. Dem Nationalen Dialog gelang es etwas abseits der Öffentlichkeit, bei wichtigen offenen Fragen Kompromisse zu finden. Die daraus resultierende Verfassung wurde sechs Monate später mit einer breiten Mehrheit in der verfassunggebenden Versammlung verabschiedet.
Letztendlich verband dieses Vorgehen die Legitimität der gewählten Institutionen mit der Legitimität, die Kompromiss und Repräsentation dem Ergebnis geben. Die wichtigsten politischen Kräfte waren in den Prozess einbezogen und jeder musste auf Forderungen verzichten, so dass alle Parteien das Gesicht wahren konnten. Bisher hat der politische Konsens funktioniert. Im Jahr 2015 wurde das Quartett mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Während Tunesien noch immer vor Herausforderungen steht, bewertet der Bertelsmann Transformation Index das Land seit der sogenannten Arabellion konstant als Demokratie – eine bemerkenswerte Leistung angesichts des trostlosen Bildes, das die Gesamtregion abgibt. Tatsächlich ist Tunesiens Punktzahl im Bertelsmann-Transformationsindex (BTI) so stark gestiegen, dass es zwischen 2006 und 2018 die dritthöchste Verbesserung des Demokratie-Index des BTI aufweist.
Bei Demokratie geht es nicht nur um Wahlen
Was kann Großbritannien aus Tunesiens Erfahrungen lernen? Erstens ist es nicht genug, gewählt zu sein. Theresa May entschied sich für den härtesten Brexit-Deal (abgesehen von einem ungeordneten Austritt ganz ohne Abkommen) – eine besonders extreme Interpretation dessen, was es bedeuten würde, die Europäische Union zu verlassen. Trotz des knappen Referendumsergebnis von 2016 wurden die Ansichten der 48 Prozent, die für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, weitgehend als dem „Willen des Volkes“ im Weg stehend missachtet. Für den weiteren Prozess muss Großbritannien einen Konsens finden, der alle wichtigen politischen Kräfte, einschließlich Pro-Brexiter und Pro-Europäer, innerhalb und außerhalb der gewählten Institutionen umfasst. Lediglich Gespräche zwischen den beiden größten politischen Parteien zu halten, wird nicht ausreichen. Die Zivilgesellschaft, Vertreter der vier Nationen des Vereinigten Königreichs und anderer politischer Parteien müssen einbezogen werden, um die Beratungen repräsentativ zu machen.
Zweitens ist Druck notwendig, damit politische Gegner einen Kompromiss finden. Unter der sechsmonatigen „Flextension“, die der Europäische Rate nun verabschiedet hat, kann Großbritannien die EU verlassen sobald die Austrittsvereinbarung vom Parlament verabschiedet wurde, wird aber spätestens Ende Oktober 2019 automatisch seine Mitgliedschaft verlieren. Bis dahin könnte ein vereinbarter Fahrplan zwischen den Teilnehmern eines Dialogs konstanten Druck aufrechterhalten, indem es eine Reihe von festen Fristen für Übereinkünfte zu bestimmten Themen vorsieht. Falls es soweit kommt, können sich Brexit-Zuschauer auf mehr spätabendliche Abstimmungen im britischen Unterhaus freuen.
Schließlich wird es erfahrene Mediatoren benötigen, um die verschiedenen Parteien an den Verhandlungstisch außerhalb der Institutionen zu bringen und einen Kompromiss zu erarbeiten, der sowohl praktikabel als auch für alle gesichtswahrend ist. Die spektakulären Richtungswechsel von Brexitern wie Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg zeigen, dass ein Sinneswandel auch bei hartgesottenen Brexit-Abgeordneten unter Umständen leichter zu stimulieren ist, als ursprünglich erwartet. Dennoch wird es unter diesen schwierigen Umständen Menschen besonderer Fähigkeiten und großen Prestiges benötigen, um einen Kompromiss zu vermitteln, der alle Parteien zufrieden stellen kann. Die Frage ist: Wer wird es tun?
Fabian Stroetges ist Doktorand an der School of Government und International Affairs der Durham University und BTI Country Expert für Tunesien.