Der Konflikt um Bergkarabach droht erneut zu eskalieren
Im jahrzehntealten Bergkarabach-Konflikt gab es bis zuletzt leichte Fortschritte. Wenn aber Armenien und Aserbaidschan sich nicht zu ernsthaften Gesprächen bereit sind, könnte der langewährende Waffenstillstand brechen.
Vorbei ist die Schonzeit für den populären armenischen Premierminister Nikol Paschinjan. An der Heimatfront steht er nun vor einer Reihe kniffliger Probleme und es bleibt ihm nichts weiter übrig, als sich mit einem scheinbar unlösbaren Dauerkonflikt zu befassen – den drei Jahrzehnte alten Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach.
Die landesweiten Massenprotesten, die die Vorgängerregierung hinwegfegten, bescherten Paschinjan im April 2018 plötzlich und unerwartet das höchste Amt. Eine friedliche Revolution hat Armenien über Nacht verwandelt, es kurz auf den Fernsehbildschirmen der Welt aufleuchten und in der Wochenzeitung The Economist zum „Land des Jahres“ werden lassen.
Achtzehn Monate später ist der Anführer dieser Revolution, Paschinjan, noch immer beliebt und seine Partei verfügt über eine große Mehrheit im Parlament. Diskreditierte und korrupte Personen wurden aus Ministerien, Gemeinden und Universitäten vertrieben. Vertreter einer jüngeren Generation haben Spitzenjobs übernommen.
Doch Paschinjan steht nun vor der gleichen Frage, die viele charismatische revolutionäre Anführer in der Vergangenheit beschäftigt hat und die auch dem Kopf der georgischen Rosenrevolution von 2003 Micheil Saakaschwili vertraut sein dürfte: Wie lässt sich die Politik der Straße in eine stabile Regierung überführen?
Ein Warnsignal an Paschinjan war der Rücktritt des Leiters des armenischen Nationalen Sicherheitsdiensts Arthur Vanetsjan am 16. September. In seinem Abschiedsbrief beklagte Vanetsjan ein Übermaß an „Spontaneität“ und schrieb: „Möge mein Rücktritt zum besonnenen Innehalten führen.“
Einen großen Teil ihrer Energie widmete die neue Regierung der vordringlichen Verfolgung des ehemaligen Präsidenten Robert Koscharjan, der beschuldigt wird, im März 2008 gewaltsam gegen Proteste vorgegangen zu sein. Dadurch hat sich Paschinjan eine Konfrontation mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eingehandelt, der ein Verbündeter Koscharjans ist und seinem alten Freund öffentlich Geburtstagsgrüße ausrichten ließ.
Russische Unterstützung unverzichtbar
Russland ist Armeniens Sicherheitspatron und Hauptverbündeter. Den russischen Präsidenten zu verärgern, ist in keiner Hinsicht eine kluge Politik, vor allem aber, wenn seit 30 Jahren ein ungelöster Konflikt in Bergkarabach vor sich hin schwelt. Der Länderbericht Armenien des Bertelsmann Transformation Index (BTI) 2018 warnt vor den Auswirkungen dieser Spannungen: Sollten sie sich verschärfen, könnte die Wirtschaft enormen Schaden erleiden: „Der Konflikt in der Region Bergkarabach birgt ein Risiko für die Wachstumsaussichten“, heißt es in dem Bericht.
Der Bergkarabach-Konflikt ist sowohl für Armenien als auch für Aserbaidschan ein heißer Vulkan. Eine militärische Eskalation könnte katastrophale Folgen für beide Länder haben. Ungelöst lässt er sich von der Regierung jedoch als schwelender Konflikt manipulieren, um von der Kritik der Opposition an den inneren Problemen des Landes abzulenken. 2018 verband sich mit Paschinjans Machtübernahme in Aserbaidschan die Hoffnung auf ein neues Kapitel in der festgefahrenen Auseinandersetzung, die bis in die Mitte der Gorbatschow-Ära 1988 zurückreicht.
Seit der neue armenische Staatschef das Ruder übernommen hat, sind mehrere positive Schritte unternommen worden. Das Ausmaß der Gewalt entlang der Waffenstillstandslinie, die die beiden Streitkräfte trennt, auch Kontaktlinie genannt, ist seit 2017 stark zurückgegangen. Beide Seiten haben eine Hotline für den Informationsaustausch eingerichtet. Sie einigten sich auf einen Waffenstillstand für einen der Grenzabschnitte, um Landwirten und Anwohnern auf beiden Seiten ein friedliches Leben zu ermöglichen. Paschinjan und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew haben sich mehrmals getroffen. Und die beiden Außenminister begegneten sich gerade auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York.
Dies ist jedoch kein Konflikt, den Staats- und Regierungschefs mal eben im Hinterzimmer beilegen könnten. Er hat sich tief in das nationale Bewusstsein der Bevölkerungen eingebrannt.
Der 44-jährige Paschinjan gehört einer Generation an, deren erwachsenes Leben von dem Konflikt mit Aserbaidschan geprägt wurde und die in einer Ära lebt, in der Armenien Karabach regiert. Ihm fällt es leicht, von „Haj Dat“, der „armenischen Sache“ zu sprechen, der Idee, Armenier aus der ganzen Welt zusammenzubringen. So war es nicht verwunderlich, dass er im August einer begeisterten Menschenmenge in Karabach „Arzach ist Armenien!“ zurief und dabei den armenischen Namen der Region benutzte. Er führte Sprechchöre an, die „Vereinigung!“ skandierten, einen Slogan, der schon seit Ende des letzten Jahrhunderts populär ist als um die Loslösung der Region von Aserbaidschan gekämpft wurde.
Dieser Auftritt wurde in Aserbaidschan scharf verurteilt und hat den Friedensprozess erschüttert. Vorsichtiger Diplomat oder volksnaher Regent – vor diese Wahl gestellt, entschied sich Paschinjan eindeutig für Letzteres. Damit bewiese er, dass sein Hauptanliegen in Wahrheit die Innenpolitik ist, sein Bestreben, nicht nur in Armenien, sondern auch in dem von Armeniern verwalteten Karabach seine Legitimität zu festigen.
Machtkonzentration in Aserbaidschan
In Aserbaidschan liegt das Problem anders. Während sich die Macht im modernen Armenien von unten nach oben ihren Weg gebahnt hat, wird sie in Aserbaidschan eher von oben nach unten ausgeübt. Präsident Alijew ist der Sohn des ehemaligen Präsidenten Heydar Alijew, der schon in der kommunistischen Ära das Land lenkte. Ilham Alijew regiert das Land seit 2003 mit einer kleinen Gruppe von Ministern und Beratern, von denen einige bereits seit zwei Jahrzehnten im Amt sind.
Der BTI-Länderbericht Aserbaidschan 2018 zeigt auf, dass es sich hier um einen klassischen autokratischen Staat handelt, mächtig, aber doch zerbrechlich, der im Ranking aufgrund seiner Regierungsführung, der politischen Beteiligungsmöglichkeiten und demokratischen Legitimierung nur einen niedrigen Rang einnimmt. Der Demokratiestatus spiegelt wider, wie weit der Weg des Landes zur Demokratie noch ist. Mit nur 3,4 Punkten fällt Aserbaidschan in die Kategorie „konsolidierte Autokratien“ und liegt deutlich unter Armeniens 5,1 Punkten. Der BTI zeigt jedoch auch Aserbaidschans vergleichsweise stabile Fähigkeit, die Öffentlichkeit an dem wirtschaftlichen Nutzen des Ölreichtums teilhaben zu lassen. Aserbaidschan ist ein mächtiger, aber größtenteils ruhiger Staat, in dem viel Unzufriedenheit unter der Oberfläche lauert. In diesem Kontext ist das nationale Gefühl, durch die armenische Besetzung aserbaidschanischen Landes in Karabach Unrecht zu erfahren, eher ein einigender Faktor. Die Regierung macht sich das zunutze, lässt die Öffentlichkeit aber kaum mitreden.
Im Ergebnis könnte Aserbaidschan nach Monaten positiverer Stimmung zwischen den beiden Ländern möglicherweise erklären, dass seine Geduld zur Neige gehe und das Ausbleiben neuer Töne aus Jerewan enttäuschend sei. Dies bedeutet, dass die Situation um Karabach in Gefahr ist, zu der längst bekannten, düsteren Dynamik von diplomatischer Blockade und aggressiver Rhetorik zurückzukehren, und erneut größere Verstöße gegen den 25-jährigen Waffenstillstand drohen.
Wenn sich die Situation erneut verschlechtert, werden die internationalen Vermittler Frankreich, Russland und die Vereinigten Staaten auf den Plan treten müssen. In den letzten zwei Jahren haben sie diesen Konflikt äußerst leise gemeistert und den beiden Seiten die Führung überlassen. Wenn der Weg jedoch abermals in die Sackgasse führt, müssen die Mediatoren aktiver werden und auf neue Ideen und Ansätze drängen, um zu verhindern, dass dieser uralte, ungelöste Streit den Weg des Friedens verlässt und in erneute Kriegsdrohungen abgleitet.
Aus dem Englischen übersetzt von Karola Klatt.
Dieser Artikel ist in ähnlicher Form zuerst erschienen auf WorldPoliticsReview.com