Gefährlicher Lockdown: Zunehmende Gewalt gegen Frauen in Mexiko
Immer mehr Frauen in Mexiko suchen Hilfe und Zuflucht, weil Fälle von häuslicher Gewalt während der Ausgangssperren und Quarantänen zunehmen. Angesichts der steigenden Zahl von Waffen, die im Umlauf sind, werden auch die Frauenmorde voraussichtlich weiter steigen.
Für viele Frauen weltweit, ist das Zuhause nicht der sicherste Ort. Ausgangssperren und Quarantänen während der Corona-Pandemie erhöhen das Risiko für geschlechtsspezifische Gewalt. In Mexiko spiegeln die Statistiken diese Realität wider. Zudem laufen Frauen immer öfter Gefahr, ins Fadenkreuz der gewalttätigen Drogenkriminalität und der Militarisierung der staatlichen Sicherheitskräfte zu geraten.
Laut Angaben des Sekretariats für die Sicherheit und den Schutz der Bürger (Spanisch: Secretaría de Seguridad y Protección Ciudadana) wurden im letzten Jahr 3.752 Frauen ermordet. 969 dieser Tötungsdelikte wurden als „Femizide“, das heißt als gewaltsamer Tod einer Frau aufgrund ihres Geschlechts, klassifiziert – eine leichte Zunahme gegenüber dem Vorjahr. Nach der Statistik der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik weist Mexiko in der Region nach Brasilien die zweithöchste Gesamtzahl an Femiziden auf, während El Salvador und Honduras die höchsten Pro-Kopf-Quoten verzeichnen. Verbreitete Gewaltbereitschaft, eine Kultur des Machismo und die unzureichende Umsetzung von Maßnahmen zum Schutz von Frauen führen dazu, dass von den 25 Ländern mit den höchsten Femizidraten der Welt 14 in Lateinamerika liegen.
Laut Maïssa Hubert, stellvertretende Direktorin der Nichtregierungsorganisation Equis Justicia Para Las Mujeres mit Sitz in Mexiko-Stadt, ist die erste Zeit der Coronakrise für mexikanische Frauen besonders gefährlich gewesen: „In den ersten Monaten der Pandemie verzeichneten wir einen Anstieg verschiedener Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt“, sagt sie. „Jeden Tag wurden im Schnitt elf Frauen getötet, im Vergleich zu zehn Fällen täglich zu Beginn des Jahres 2020.“
Im März 2020 erhielten die Notrufzentralen mit 26.000 Hinweisen auf häusliche Gewalt so viele wie niemals zuvor. Die Zahl der Frauen, die ihr Zuhause verließen, um in Schutzräumen der Frauenorganisation Red Nacional de Refugios Zuflucht zu suchen, vervierfachte sich.
Auch außerhalb der eigenen vier Wände wird das Leben für Frauen immer gefährlicher. Grund sind die immer mächtiger werdenden transnationalen kriminellen Organisationen und die militarisierte Antwort der staatlichen Sicherheitskräfte. Während die Kriminalität in den ersten Monaten der Pandemie zurückging, führte das Sicherheitsvakuum zunehmend zu Zusammenstößen unter den 198 aktiven bewaffneten Gruppen in der nach Ansicht der International Crisis Group „hyperfragmentierten kriminellen Landschaft“ des Landes.
Gangs und militarisierte Staatssicherheit
„Das organisierte Verbrechen verschlimmert die Situation von Frauen im Hinblick auf Frauenmorde“, sagt Maria Salguero, eine Forscherin, die eine nationale Femizidkarte erstellt hat. „Mit den Leichnamen von Frauen senden Verbrecherbanden ihren Rivalen Botschaften. In Bundesstaaten, in denen es viel organisierte Kriminalität gibt, wie Juarez, Chihuhua, Guerrero und Naucalpan, sehen wir eine Häufung von Femiziden, Verschwindenlassen und Vergewaltigungen.“
Verschärft wird diese Situation noch durch die fortschreitende Militarisierung der staatlichen Sicherheit. Der Länderbericht Mexiko des Transformation Index der Bertelsmann Stiftung (BTI) stellt fest, dass „die Armee, die eingesetzt wurde, um im Inneren für Sicherheit zu sorgen, im Rahmen des Kriegs gegen den Drogenhandel viele Mittel erhalten hat.“ Die Ausweitung des Mandats des Militärs auf zivile Aufgaben könne besorgniserregende Auswirkungen auf die Konsensbildung im Land haben. Nach Sicht des BTI-Berichts drohe die Regierung von Andrés Manuel López Obrador (AMLO), die öffentliche Unterstützung zu verlieren, wenn sie die Probleme mit Korruption und Gewalt im Land nicht lösen könne. Betont wird in dem Bericht, dass „die Tatsache, dass der Aufgabenbereich der Armee, die bisher keine Gefahr für die Demokratie darstellte, immer weiter ausgedehnt wird, in Zukunft zur Bedrohung werden könnte.“ Ein solcher Vertrauensverlust in die Institutionen und die Sicherheitskräfte könnte sich indirekt auf die gesamte Gewaltkriminalität auswirken.
Am 11. Mai 2020 erhielten die mexikanischen Streitkräfte und die Nationalgarde per Dekret neue Befugnisse, die es ihnen erlauben, eine weitaus größere Rolle bei der Verfolgung von Gewaltverbrechen im Land zu spielen. Viele Polizeiaufgaben können sie nun übernehmen, ohne dass ein effektiver Kontrollmechanismus existiert.
Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf geschlechtsspezifische Gewalt werden erst jetzt deutlich. „Diese und die Vorgängerregierung vertraten die Auffassung, dass eine militärische Antwort auf die Sicherheitslage uns alle und insbesondere die Frauen besser schützen werde“, sagt Hubert. „In Wirklichkeit jedoch hat die zunehmende Verbreitung von Schusswaffen furchtbare Auswirkungen für Frauen.“
60 Prozent der insgesamt 1.844 Morde an Frauen im Jahr 2020 wurden mit einer Schusswaffe begangen. Von 1998 bis 2019 stieg die Zahl der durch Schusswaffen getöteten Frauen in Mexiko um 375 Prozent. Mehr als 2,5 Millionen Schusswaffen sind in den letzten zehn Jahren aus den USA nach Mexiko gelangt. Seit 2015 lag in Mexiko die Zahl der insgesamt registrierten Morde nicht mehr so hoch wie 2020 und die überwältigende Mehrheit dieser insgesamt 34.515 Tötungsdelikte wurde mit Schusswaffen verübt.
Ein lange negiertes Problem
In Mexiko verschlingt die Fokussierung auf die Militarisierung der inneren Sicherheit staatliche Mittel, während gleichzeitig die Ressourcen für Programme zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen gekürzt werden. Die Bilanz der öffentlichen Ordnung in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt ist in den letzten Jahren gemischt. Erst im Dezember letzten Jahres sprach Präsident AMLO erstmals über das Problem geschlechtsspezifischer Gewalt. Bis dato hatte er das Wort „Femizid“ gemieden und auch nicht zugegeben, dass Frauen besonderen Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind. Noch im Mai 2020 behauptete er, 90 Prozent der Notrufe im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt entpuppten sich als falscher Alarm. Auf Nachfrage von NGOs konnten seine Mitarbeiter keine Beweise für diese Behauptung vorgelegen.
Trotz dieser Ignoranz auf Regierungsebene habe man das Problem auf Bundes- und Ministerialebene in den letzten Jahren schon eher wahrgenommen, so Hubert, und viele langfristige Maßnahmen umgesetzt, die vom 2001 gegründeten Nationalen Institut für Frauen vorgeschlagen worden waren. Viele dieser präventiven und reaktiven Maßnahmen im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt waren jedoch von Kürzungen der Regierungsausgaben infolge der Pandemie betroffen.
„Wir haben die Tätigkeit der Gerichte zu Beginn der Pandemie analysiert und festgestellt, dass geschlechtsspezifische Gewalt nicht prioritär behandelt wurde“, stellt Hubert fest. „Für eine Frau, die sich aus einer Gewaltsituation befreien will, sind Entscheidungen über Scheidung und Unterhalt sehr wichtig, doch Gerichte haben sich oft nicht damit befasst.“
Für Saguero zählt vor allem, die Namen und Identitäten der Opfer von Mexikos „Schattenpandemie“ geschlechtsspezifischer Gewalt zu sammeln. „Nur wenn wir die Geschichten der Opfer erzählen, können wir das Ausmaß des Problems wirklich sichtbar machen“, sagt sie. „Noch viel Arbeit liegt vor uns, denn die Zahlen sind nach wie vor hoch.“
Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.
Auch, wenn das Waffenproblem in Europa bei weitem nicht so ausgeprägt ist, wie in Mexiko, sind auch in Deutschland im Zuge des Lockdowns die Fälle häuslicher Gewalt angestiegen. So herausfordernd die neuen Bedingungen während der Pandemie waren und sind: Die Anwendung von Gewalt rechtfertigen sie in keinem Fall. Als betroffene Person kann man sich helfen, indem man sich Rat und Unterstützung von einem Anwalt für Familienrecht sucht.