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Last plenary session of the VII Spring Session of the State Duma, Photo by duma.gov.ru via Wikimedia Commons, CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.en

Russische Parlamentswahl: Mission erfüllt

Der Kreml orderte eine „konstitutionelle Mehrheit“ von zwei Dritteln der Sitze für seine Partei „Einiges Russland“ und die Wähler haben geliefert – oder genauer die für das Wahlergebnis politisch verantwortlichen Repräsentanten des Regimes in den 85 Regionen des Landes. Wirklich überraschen konnte dieser Sieg der von Aleksej Nawalnij so charakterisierten „Partei der Gauner und Diebe“  nicht. Denn auch diesmal wurde wieder ausgiebig von den Instrumenten Gebrauch gemacht, die schon bei den vorangegangenen Wahlen ihre Effizienz unter Beweis gestellt hatten.

Wahlmanagement nach bewährtem Muster

Die gewünschten Ergebnisse werden bei russischen Wahlen im Zeichen des Putinismus im Wesentlichen durch sechs Maßnahmen sichergestellt. Da ist zum einen die Anpassung, sprich: Manipulation, des Wahlrechts. So wurde 2016 ein Grabenwahlrecht (wieder) eingeführt, nach dem 225 Sitze in Wahlkreisen und 225 Sitze über Bundes- und Regionallisten vergeben werden. Das schafft ideale Voraussetzungen, um der Kremlpartei zumindest eine Mehrheit der Mandate zu sichern. 2021 kam die Ausweitung auf drei Wahltage sowie in sieben Regionen die Einführung einer elektronischen Stimmabgabe hinzu, was beides die Transparenz massiv beschränkte. Zu diesen Regionen gehörten Moskau, wo sich nach Angaben von Oberbürgermeister Sobjanin 17,5 Prozent der Wahlberechtigten für eine elektronische Stimmabgabe registrieren ließen, und Rostow, wo auch etwa 600.000 Neubürger aus den selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk ihre Stimme abgeben konnten.

Ein weiterer manipulativer Baustein ist der Registrierungsprozess durch die Wahlkommission, dem wie in der Vergangenheit eine beträchtliche Zahl – vornehmlich unabhängiger – Kandidaten zum Opfer fiel. Dies geschah unter einer Reihe von Vorwänden, fehlerhafte Unterschriften für die Wahlvorschläge eingereicht oder mit „extremistischen“ Organisationen wie Nawalnijs Anti-Korruptionsstiftung kooperiert zu haben sowie über eine doppelte Staatsangehörigkeit oder Vermögen im Ausland zu verfügen, womit einer der prominentesten kommunistischen Kandidaten, Pawel Grudinin, aus dem Rennen genommen wurde. Umgekehrt war eine besondere Pointe zur Wählerverwirrung wie in der Vergangenheit die Aufstellung von „Doppelgängern“, also Kandidaten mit gleichen oder ähnlichen Namen und bisweilen sogar deckungsgleicher Optik. Das wurde diesmal in mehr als 20 Fällen praktiziert – am prominentesten in St. Petersburg mit dem Jabloko-Kandidaten Boris Wischnewskij, der sich gleich zweier Doppelgänger erwehren musste.

Weitere Elemente waren die höchst einseitige Berichterstattung in den nahezu komplett staatlich kontrollierten Medien, administrative Behinderungen des Wahlkampfs der Opposition sowie die Wählersteuerung, bei der die klassische Klientel der Kreml-Partei namentlich aus dem breit aufgestellten öffentlichen Sektor mit sanftem und weniger sanftem Druck zur allfälligen Stimmabgabe veranlasst wurde. Dazu gehören auch die Wahlgeschenke an Rentner, Soldaten, und Staatsangestellte, denen die Regierung in den Wochen vor der Wahl Einmalzahlungen in Höhe von 15.000 Rubel (180 Euro) gewährte. In den (großstädtischen) Bezirken mit Devianzpotential blieben jegliche Anreize zur Stimmabgabe hingegen aus und es wurde auf das verbreitete Desinteresse der Wählerschaft an einer Wahl gesetzt, bei der nach verbreiteter Auffassung ohnehin nichts zu entscheiden war.

Schließlich gehörte zum Arsenal auch diesmal das klassische Instrument der Wahlfälschung, die nicht nur durch die dreitägige und die elektronische Stimmabgabe erleichtert wurde, sondern auch dadurch, dass die 2016 eingeführte Videoüberwachung stark eingeschränkt wurde und den beiden OSZE-Institutionen – dem Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) sowie der Parlamentarischen Versammlung – entgegen den OSZE-Regeln nach 2007 und 2008 erneut eine Wahlbeobachtungsmission faktisch verwehrt blieb (unter Hinweis auf die Pandemie wollte Russland nur 50 Beobachter der einen und 10 der anderen Institution zulassen). Dass die russische Presse Mitschnitte von Wahlfälschungsschulungen veröffentlichte, dokumentiert, dass auch insoweit nichts dem Zufall überlassen wurde. Sieht man einmal von den notorischen Hochburgen der Wahlfälschung namentlich im Süden der Föderation ab, musste allerdings auf Grund der übrigen Vorkehrungen auf dieses Instrument nicht in einem Ausmaß zurückgegriffen werden, das geeignet gewesen wäre, wie 2011 und jüngst nach den Präsidentschaftswahlen in Belarus so viel Empörung auszulösen, dass daraus Massenproteste entstehen konnten. Die von der Wahlbeobachtungsorganisation „Golos“ gemeldeten mehr als 4.000 Vorkommnisse bewegen sich im Rahmen des in Russland Üblichen.

Dieses vor allem seit den Parlamentswahlen 2011 zunehmend verfeinerte Instrumentarium zur Aushöhlung politischer Repräsentanz und Partizipation spiegelt sich in den Ergebnissen des Transformationsindex (BTI) wider: um insgesamt 2,5 Punkte auf einer Zehnerskala verschlechterte sich die Bewertung Russlands seit dem BTI 2006 in diesem Kriterium. Nur in zehn der im BTI untersuchten Länder war die Entwicklung noch negativer. Im aktuellen BTI-Länderbericht wird Russland folgerichtig als autoritäres Regime bezeichnet, in dem Institutionen, die normalerweise mit Demokratie assoziiert werden, gleichwohl nicht vollständig abgeschafft sind.

Plebiszit mit Schönheitsfehlern

So kam es also, dass bei einer leicht gestiegenen Wahlbeteiligung von 51,6 Prozent (2016: 47,9) „Einiges Russland“ 49,8 Prozent der Stimmen erzielte und bei den Direktmandaten 198 von 225. Das ist ein leichter Rückgang im Vergleich zur letzten Wahl mit 54,2 Prozent der Listenstimmen und 203 Direktmandaten, garantiert jedoch die gewünschte Zweidrittelmehrheit der Sitze (zumal ihr als stärkster Partei auch jene Prozente zugeschlagen werden, die auf Parteien entfielen, die an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind). Herausragende Zweite wurde die kommunistische Partei KPRF mit 18,9 Prozent, womit sie ihre Verluste von 5,9 Prozent bei der letzten Wahl wieder wettmachte. Es folgen die ultranationalistische LDPR mit stark eingebüßten 7,5 Prozent (2016: 13,1) und die Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ mit leicht verbesserten 7,4 Prozent (2016: 6,2) sowie als Neuling die Partei „Neue Leute“ mit 5,3 Prozent. Nach allgemeiner Einschätzung handelt es sich bei ihr um eine Kreml-Kreatur, um der bisherigen „nichtsystemischen“ Opposition ein Angebot zu präsentieren.

Das Wahlergebnis entspricht cum grano salis den Umfragen der relevanten Institute vor der Wahl – mit einer signifikanten Ausnahme: der Kreml-Partei „Einiges Russland“, die auf gerade einmal 27 Prozent an Zustimmung kam, mit abnehmender Tendenz (dies in deutlichem Unterschied zu den Wahlen von 2016). Es ist unschwer zu erkennen, wie die Lücke gefüllt wurde.

Das Wahlergebnis lieferte folglich das gewünschte Plebiszit für Putins Regime, denn wichtig war die Wahl für den Kreml durchaus – nicht, um sich gegen politische Gegner zu behaupten, sondern um auf die vermeintlich breite Unterstützung im Volk verweisen zu können. Allerdings hat sich das Potential des von Wladimir Putin geprägten politischen Systems darin weitgehend erschöpft. Mit den Worten der Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja: „Er konserviert das System, statt es zu entwickeln.“ Bis zur globalen Finanzkrise 2008/2009 stützten sich dessen Stabilität und die Popularität des Amtsinhabers auf den wirtschaftlichen Wiederaufstieg des Landes. Durch den globalen Ölboom befeuert eröffnete dieser Verteilungsspielräume, von denen trotz galoppierender Ungleichheit in gewissem Umfang auch die Bevölkerung profitierte. Seit der Krim-Annexion 2014 trat als Legitimationsressource an dessen Stelle der Wiederaufstieg des Landes als weltpolitischer Akteur, befeuert durch nationalistische Rhetorik und eine zunehmend militante Abgrenzung vom Westen, was die seit 2008 zu verzeichnende Stagnation der Realeinkommen in gewissem Umfang kompensierte.

Auf großrussischer Welle in die Abenddämmerung

Es ist daher kein Zufall, dass mit Verteidigungsminister Schojgu und Außenminister Lawrow die beiden prominentesten Repräsentanten dieses Kurses zu den beiden Spitzenkandidaten der Keml-Partei „Einiges Russland“ gekürt wurden – und nicht der aussortierte Parteivorsitzende Dmitrij Medwedew. Zwar lagen ihre Popularitätswerte vor der Wahl nach Angaben des Lewada-Zentrums auch nur bei etwa 10 Prozent (Putin: 33), doch zeichnete sich insbesondere Lawrow in den letzten Jahren durch eine Brachialrhetorik aus, die zwar der außenpolitischen Konfrontation die gebührende Hintergrundmusik lieferte, seine eigentliche Bestimmung als Russlands Chefdiplomat aber ad absurdum führte.

Von diesem nationalistischen Virus ließ sich neben dem notorischen Krawallmacher Schirinowskij und seiner LDPR sowie den Sowjetnostalgikern in der KPRF auch die Partei „Gerechtes Russland“ anstecken, die es nach langjährigem Niedergang bei dieser Wahl erneut über die Fünf-Prozent-Hürde schaffte. Einst vom Kreml als „linke“ Alternative zur Regierungspartei aus der Taufe gehoben und nominell immer noch sozialdemokratisch sowie Mitglied der Sozialistischen Internationale, tat sie sich im Januar mit zwei weiteren Kleinparteien zusammen: den „Patrioten Russlands“ sowie der Partei „Für die Wahrheit“ und firmierte zu den Wahlen als „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“. Letztere ist ein ganz besonderes Geschöpf des Schriftstellers Sachar Prilepin sowie seines ebenfalls schriftstellernden Kollegen aus dem rechtsradikalen und großrussischen Isborskij Klub, Nikolaj Starikow. Bei Prilepin handelt es sich um einen glasklaren Faschisten, der offenkundig Gabriele d’Annunzio nacheifert und mit seiner Dauerpräsenz in Donezk so etwas wie dieser 1919 mit seinem „Freistaat Fiume“ (dem heute kroatischen Rijeka) installieren will, wobei ihm allerdings d’Annunzios aristokratisches Flair abgeht.

Ein kostspieliger Kurs mit Risiken

Dieser in der Moskauer politischen Klasse breit verankerte anti-westliche und anti-liberale Kurs hat jedoch seinen wirtschaftlichen wie sozialen Preis: Russland sanktionsfest zu machen und als militärische Großmacht mit einem bis nach Afrika ausgedehnten Aktionsradius zu behaupten, vollzieht sich auf Kosten elementarer sozialer Standards für die Gesellschaft und zwingt die Wirtschaft fortwährend unter das korrupte staatliche Kuratel und in den Dienst der außen- und militärpolitischen Ambitionen.

Es ist daher auch kein Zufall, dass die Kommunistische Partei bei den Wahlen so etwas wie eine Wiedergeburt erlebt hat (wobei der von Aleksej Nawalnij als „kluge Wahl“ bezeichnete Aufruf, für alle außer der Kreml-Partei zu stimmen, mit 137 Wahlempfehlungen zugunsten von KPRF-Kandidaten keine nennenswerte Rolle gespielt haben dürfte, auch dank einer Blockade der einschlägigen Websites und Apps). Die KPRF vermittelt zumindest die Illusion, eine politische Alternative für die Hauptsorgen der Bevölkerung zu verkörpern: die stark gestiegene Inflation, Armut, Arbeitslosigkeit, die Erhöhung des Rentenalters, Korruption und Durchschnittseinkommen, die auf dem Stand von 2008 in Höhe von kaum 500 US-Dollar verharren. An der Rolle des Parlaments als reibungslos funktionierender Gesetzgebungsmaschine unter willfähriger Mitwirkung der drei nominell oppositionellen „Systemparteien“ und der Kleinfraktion „Neuer Leute“ wird sich allerdings erst einmal nichts ändern.

Die eigentliche Bedeutung der Duma-Wahlen liegt daher weniger in der fragwürdigen plebiszitären Bestätigung des zunehmend repressiven Regimes als in der Zukunft: die aktuelle achte Wahlperiode reicht über das magische Jahr 2024 hinaus, in dem die nächste Präsidentschaftswahl stattfindet. Zwar hat sich Putin 2020 durch die Verfassungsreform in letzter Minute das Recht gesichert, zwei weitere Amtsperioden zu absolvieren; ob und wie er dieses Recht wahrnimmt, ist jedoch offen. Sollte er tatsächlich bereits zu diesem Termin abtreten, würde nicht nur die Drehachse des Regimes verschwinden, sondern im Zuge der unausweichlichen personellen und damit machtpolitischen Neuordnung würde auch der Staatsduma eine potentiell aktivere Rolle zufallen und die Parteiblöcke würden sich in Bewegung setzen. Es gibt viele Beispiele dafür, wie Institutionen im autokratischen Dämmerschlaf unter veränderten Umständen zu Vehikeln demokratischen Wandels werden können. Insofern bleibt also auch das langweilige Wahlergebnis spannend.

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