Wie die Türkei Einfluss in Libyen nimmt
Die militärische Stärke der Türkei spielte für den Ausgang des letzten libyschen Bürgerkriegs eine entscheidende Rolle. Bilaterale Abkommen wirken in beiden Ländern fort und verändern gleichzeitig die regionale Ordnung und das Kräftegleichgewicht.
In den zehn Jahren seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes während des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 hat Libyen einen tiefgreifenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandel erlebt. Obwohl ein friedlicher Führungswechsel in Aussicht gestellt worden war, kam es nach den Wahlen 2012 zu Bürgerkriegen. Der pensionierte General Chalifa Haftar riss, unterstützt von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Ägypten, Frankreich und Russland, die Macht an sich. Mit dem Eintritt in den Bürgerkrieg 2019 veränderte die Türkei das Schicksal der lokalen Akteure und das geopolitische Gleichgewicht, das bis dahin noch nicht herausgefordert worden war.
Die Türkei unterstützte die ehemalige „Regierung des Nationalen Einvernehmens“ (RNE) und demonstrierte mit ihrer herausragenden militärischen Rolle ihre wachsenden militärischen Fähigkeiten am Boden und in der Luft, ihre Bereitschaft, sich mit regionalen Rivalen anzulegen, die die Machtergreifung Haftars unterstützten, sowie ihre diplomatischen Ambitionen. Der libysche Bürgerkrieg von 2019 entwickelte sich nach dem dramatischen Eingreifen der Türkei zu einem Schlachtfeld zweier Lager, auf dem eine Vielzahl geostrategischer Rivalitäten und großer geopolitischer Verwerfungen zutage traten. Ankaras Politik wurde und wird nicht nur von den Ereignissen in Libyen getrieben, sondern auch von der geostrategischen Bedeutung der libyschen Küstenlinie, dem regionalen geopolitischen Konflikt und der eigenen Wirtschaftskrise.
Eine unübersichtliche Gemengenlage
Der kürzlich veröffentlichte Länderbericht Libyen des Bertelsmann Transformation Index (BTI) stellt fest, dass die Konflikte nach den Wahlen von 2014 „zu einer De-facto-Spaltung Libyens in zwei rivalisierende Entitäten mit entsprechender Unterstützung durch wechselnde Allianzen nationaler, regionaler und internationaler Akteure“ führten. Der Bericht betont, wie schwer es war, sich in dieser Gemengelage zurechtzufinden – eine Realität, die sich mit der türkischen Militärintervention noch weiter zuspitzte. Ankara wurde in den Bürgerkrieg hineingezogen, als die RNE um Unterstützung bei der Verteidigung der libyschen Hauptstadt auf dem Höhepunkt des Konflikts im November 2019 bat. Der RNE war es nicht gelungen, den UN-Sicherheitsrat, der die Regierung 2015 anerkannt hatte, zu diplomatischer Unterstützung oder Sanktionen gegen Haftar zu bewegen. Später stellte sich heraus, dass Frankreich und Russland, wichtige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, Haftar diskret unterstützt hatten. Deshalb bat die RNE die Türkei um militärische Hilfe.
Die Unterzeichnung eines Abkommens über Seegrenzen und Sicherheitskooperation war die Grundlage für eine Intervention. Das Abkommen veränderte nicht nur die lokale Machtdynamik in der Hauptstadt, sondern lenkte die Aufmerksamkeit auch auf die rohstoffreichen Hoheitsgewässer der Länder im Mittelmeer. Als Gegenleistung für eine militärische Intervention der Türkei zur Unterstützung der RNE gegen die Einnahme von Tripolis durch Haftar bedeutete das gemeinsame Abkommen ein geostrategisches Husarenstück: Mit der Grenzziehung von maritimen Interessensgebieten stellten die Türkei und Libyen bestehende Seegrenzen der wirtschaftlichen Konkurrenten Griechenland, Zypern, Ägypten und Israel im gasreichen östlichen Mittelmeerraum infrage. Damit wollte die Türkei verhindern, dass Griechenland, Zypern, Ägypten und Israel, die im sogenannten Gasforum Östliches Mittelmeer organisiert sind, Versuche unternehmen, der Türkei ihren eingeforderten Anteil an den Rohstoffvorkommen unter dem Meeresboden abzusprechen.
Auf Kollisionskurs
Die militärische Intervention in Tripolis Ende 2019 brachte die Türkei auf Kollisionskurs mit den VAE, einem mächtigen regionalen Akteur und Rivalen, der die finanzielle und militärische Belastung von Haftars Kriegen getragen hatte. Im Jahr 2019 finanzierten die VAE russische Söldner und führten Drohnenangriffe auf Tripolis durch, um die Hauptstadt in einer Bodenoffensive einzunehmen und Haftar mit Gewalt zu installieren. Unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“ sind die VAE zusammen mit Ägypten in Libyen aktiv, seit die Proteste des Arabischen Frühlings autoritäre Regime in der gesamten Region zu stürzen drohten. Ähnlichkeiten in den sozialen Stammesstrukturen und hinsichtlich des enormen Ölreichtums weckten die Befürchtung, dass es im Zuge des demokratischen Wandels in Libyen auch in den VAE zu Protesten kommen könnte, was die VAE dazu veranlasste, regional eine Reihe von Militärputschen in den Nachbarländern Ägypten und Sudan zu unterstützen sowie die wiederholten Staatsstreiche von Haftar seit 2014.
Die Türkei, damals noch eine Mehrparteiendemokratie, die den Arabischen Frühling im Jahr 2011 in der Hoffnung unterstützt hatte, von dem ideologischen Umbruch zu profitieren, blieb von den politischen Umwälzungen in der Region im vergangenen Jahrzehnt nicht verschont. Ankara wirft den VAE vor, den gescheiterten Militärputsch im Jahr 2016 in der Türkei unterstützt zu haben, und steht den Militärregimen, die seit 2011 in der gesamten Region die Macht von der arabischen Straße übernommen haben, zunehmend feindlich gegenüber.
Der Stellvertreterkampf der Türkei mit den VAE war eine geopolitische Konfrontation zweier regionaler Militärmächte mit existenziellen Rivalitäten und unvereinbaren ideologischen Visionen der regionalen Ordnung nach dem Arabischen Frühling. Dass die Türkei syrische Kämpfer nach Libyen entsandte, erregte viel Aufmerksamkeit. Entscheidende Wirkung erzielten jedoch Drohnenangriffe auf die Luftabwehrsysteme der VAE. Sie führten zum Scheitern der VAE-Offensive in Tripolis, zur Niederlage Haftars, und im Sommer 2020 zu einer Pattsituation.
Die Türkei auf der Suche nach politischen Erfolgen
Diese Dynamik ermöglichte es den Vereinten Nationen, einen Waffenstillstand zu vereinbaren und seit Ende 2021 einen Friedensprozess einzuleiten, der zur Ernennung einer neuen Übergangs-Einheitsregierung führte und zudem erreichte, dass Ankara und Abu Dhabi eine diplomatische Deeskalation ausloten. Im November 2021 empfing der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den emiratischen Kronprinzen Mohammed bin Zayed, zum ersten Mal seit fast einem Jahrzehnt. Die beiden Länder unterzeichneten Handelsabkommen, was nach Ansicht von Beobachtern das offizielle Ende der Feindseligkeiten markieren könnte. Obwohl die ideologischen Positionen beider Länder auf lange Sicht unvereinbar scheinen und eine diplomatische Annäherung schwer zu erreichen ist, überdecken Handelsabkommen die politischen Meinungsverschiedenheiten beider Länder und verhindern eine erneute militärische Konfrontation in Libyen.
Diese Entwicklung hat viel mit der wirtschaftlichen und innenpolitischen Krise der Türkei zu tun, die das Land dazu zwingt, nach wirtschaftlichen Rettungsankern und Möglichkeiten zu suchen und seine geostrategischen und geopolitischen Ziele damit in Einklang zu bringen. Libyen wird schätzungsweise 100 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau nach dem Krieg aufbringen müssen, wobei der libysche Planungsminister Al-Hadi Al-Taher Al-Juhaimi betonte, dass „der Löwenanteil“ der Aufträge an die Türkei gehen würde, die eine wichtige wirtschaftliche Lebensader darstelle.
Die Türkei hat auch ihre geostrategischen Interessen gewahrt, indem sie ein Festhalten an dem umstrittenen Seerechte-Abkommen mit der Übergangs-Einheitsregierung erneut bekräftigt hat. Als weiterer Schritt für die Sicherung der Seegrenzen hat Ankara gleichzeitig Beziehungen mit dem rivalisierenden Parlament aufgenommen, das Haftar nahesteht. Schließlich ist es der Türkei gelungen, ungeachtet des Kriegsendes die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der neuen Übergangs-Einheitsregierung fortzuführen. Sie kann auf diese Weise versuchen, die militärischen Strukturen Libyens nach dem eigenen politischen Willen umzugestalten und so den politischen Zielen der VAE mit der Lybischen Nationalarmee Haftars entgegenzuwirken. Die Erfahrung der Türkei mit der Transformation Libyens hat ihr geostrategisches Geschick, ihre geopolitische Perspektive und die regionale Ordnung tiefgreifend verändert.
Aus dem Englischen übersetzt von Karola Klatt
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