Von der Ambiguität zur Anpassungsfähigkeit: Wie die Ukraine-EU-Beziehungen an Fahrt aufnehmen könnten
Was die ukrainische Mitgliedschaft in der EU betrifft, so hat der Krieg den gescheiterten Balanceakt der EU zwischen ihrer Nachbarschafts- und Beitrittspolitik offenbart – und das wirtschaftliche Dilemma der vollständigen Integration verschärft. Eine klare Strategie für die ukrainische Mitgliedschaft erfordert von der EU eine Rückbesinnung auf ihren grundlegenden Kern, nämlich den Schutz ihrer Werte in einer zunehmend gefährlichen und polarisierten Welt.
Der Kampf der Ukraine gegen die russische Invasion hat bei den europäischen Mitbürgern gleichermaßen Bewunderung und zunehmendes Entsetzen ausgelöst. Politiker und Kommentatoren haben schnell akzeptiert, dass die Ukraine ihre Verteidigung gegen Russland als Verteidigung eben jener europäischen Werte darstellt, die formell im Vertrag über die Europäische Union (EUV) verankert sind – nämlich „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“.
In Echtzeit zu beobachten, wie die Ukrainer Leib und Leben gegen einen autokratischen, quasi-totalitären Gegner riskieren, hat die EU an die Bedeutung der ihr zugrundeliegenden Grundsatzerklärung erinnert, die oft als rein symbolisch abgetan wird.
Die Berufung auf gemeinsame Werte zum Zwecke der Orientierung steht im Einklang mit einer breiteren, ethisch geprägten Rhetorik, die man aus Brüssel in Vielzahl von Bereichen hört. Die EU hat endlich begriffen, dass sie ihren Platz in einem schwierigeren geopolitischen Umfeld finden und ihn aktiver und kreativer verteidigen muss.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten in einer neuen Welt: Kühnes Auftreten und Unsicherheit zugleich
Das überwältigende Gefühl einer „Zeitenwende“, um den Begriff von Olaf Scholz zu verwenden, ist so präsent, dass Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, die für das Vorantreiben der EU-Agenda verantwortlich ist, zunächst einen hoffnungsvollen Ton in Bezug auf die EU-Mitgliedschaft der Ukraine anschlug und schnell erklärte, dass die Ukraine „Teil von uns ist und wir sie dabei haben wollen“.
Diese scheinbare Zusage erfolgte am selben Tag, an dem Deutschland sich bereit erklärte, Waffen in das Kriegsgebiet in der Mitte Europas zu schicken – ein historischer Politikwechsel, der zeigt, wie schnell sich grundlegende Einstellungen angesichts dramatischer Ereignisse ändern können.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bat die EU, der Ukraine die „sofortige“ Mitgliedschaft im Rahmen eines „neuen Sonderverfahrens“ zu ermöglichen, was den Jubel mehrerer – vor allem osteuropäischer – Mitgliedsländer und den Beifall des Europäischen Parlaments (EP) hervorrief.
Charles Michel, der den Europäischen Rat der EU-Staats- und Regierungschefs vertrat, der Einstimmigkeit verlangt, beruhigte die Gemüter jedoch umgehend mit dem Hinweis, dass die ukrainischen Beitrittsbestrebungen zwar „legitim“ seien, aber weitgehend „symbolisch“ blieben.
Auf dem informellen EU-Gipfel in Versailles wurde die ukrainische Mitgliedschaft an sich nicht erwähnt. Stattdessen versprachen die europäischen Staats- und Regierungschefs, „die Verbindungen weiter zu stärken und die Partnerschaft zu vertiefen, um die Ukraine bei der Verfolgung ihres europäischen Weges zu unterstützen“, und fügten hinzu: „Die Ukraine gehört zu unserer europäischen Familie.“ Eine genauere Lektüre der Resolution des Europäischen Parlaments nach der Invasion zeigt, dass die Annäherung der Ukraine an eine Mitgliedschaft nach dem Grundsatz erfolgen sollte, „auf die Gewährung des Kandidatenstatus hinzuarbeiten“, wobei die endgültige Entscheidung „aufgrund der Verdienste“ getroffen werden sollte.
In jedem Fall ist die Aufnahme in erster Linie eine Angelegenheit der Mitgliedstaaten, während die Europäische Kommission eine erste Bewertung auf technischer Basis vornimmt. Einige Beobachter sprachen von deprimierenden Signalen, dass Europa immer noch nicht erkannt hat, dass es dringend seine Werte verteidigen muss. Zumindest müssen sie als ein vorsichtiges Vorgehen der EU-Regierungschefs interpretiert werden.
Beharren auf EU-internen Reformen: Voraussetzung für die Mitgliedschaft der Ukraine oder Realitätsferne?
Diese Vorsicht beruht auf einer Reihe von seit langem bestehenden Einwänden gegen eine weitere EU-Erweiterung vor einer grundlegenden Reform der EU selbst. Und auf Bedenken hinsichtlich der Geschwindigkeit und des Verfahrens – schließlich würde die Vollmitgliedschaft für die Ukraine die Einführung von 70.000 Seiten des acquis communautaire (EU-Rechtsnormen, Vorschriften und technische Standards) bedeuten.
Kritiker der ukrainischen Mitgliedschaft weisen darauf hin, dass keine der beiden Seiten darauf vorbereitet ist, und warnen davor, dass die Politik der EU kompromittiert und die Maßnahmen gefährlich ins Stocken geraten könnten, wenn ein weiteres Mitglied mit fragwürdiger Regierungsführung dem Block beitreten würde.
Die EU tut sich schon jetzt schwer, ihrem Anspruch gerecht zu werden, weltweit mehr Gewicht zu erlangen, und wenn Einstimmigkeit erforderlich ist, wie in der Außen- und Sicherheitspolitik, ist die unreformierte EU oft nicht in der Lage, einen gemeinsamen Standpunkt zu vertreten. Das Gleiche gilt für einige Bereiche, in denen keine Einstimmigkeit erforderlich (wenn auch erwünscht) ist, wie etwa in der Asylpolitik.
Die syrische „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 offenbarte die strukturellen Mängel des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und den mangelnden politischen Willen, unterschiedliche Haltungen in den europäischen Hauptstädten zu überwinden, um Asylsuchenden und Flüchtlingen zu helfen.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob es sich die EU leisten kann, die Bewältigung der immer dringlicheren Herausforderungen mit dem bloßen Hinweis auf die Notwendigkeit interner Reformen aufzuschieben. Die Frage ist auch, ob die Mitgliedstaaten die Fähigkeit besitzen, entschlossen zu handeln, um Verfahrensregeln anzupassen, die ursprünglich für normalere Umstände gedacht waren.
Die Quid-pro-quo-Logik des Assoziierungsabkommens – Anker für Reformen oder unüberwindbares Hindernis?
Der Kern des Ansatzes der EU in ihrer Partnerschaft mit der Ukraine in der Zeit vor dem Krieg war das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, das durch eine vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA) ergänzt wurde. Im Rahmen dieser Vereinbarung ist die Ukraine verpflichtet, den gemeinschaftlichen Besitzstand zu übernehmen und umzusetzen, während sich die EU im Gegenzug verpflichtet, die Ukraine in ihren Binnenmarkt zu integrieren.
Die Fortschritte sind uneinheitlich, da die nachhaltige Übernahme und Umsetzung des Acquis erhebliche Herausforderungen mit sich bringt. Eine zusätzliche Herausforderung wird darin bestehen, die Bestimmungen des Europäischen Green Deal im Rahmen der wirtschaftlichen Integration der Ukraine in den EU-Markt zu berücksichtigen.
Der Umgang mit den unterschiedlichen Erwartungen der EU und der Ukraine in Bezug auf das Endziel der kostspieligen und anstrengenden Reformen vor dem Krieg bestand darin, die Sache auf die lange Bank zu schieben und sich vage auf die Möglichkeit einer ukrainischen Mitgliedschaft in zehn Jahren zu einigen.
Europäische Ambiguität in Bezug auf die Ukraine-Beziehungen
Die russische Invasion hat wohl einen Teil der Debatte beendet: Die geopolitische Dimension der Ambiguität der EU muss geklärt werden. Die wirtschaftliche Dimension der europäischen Unklarheit besteht jedoch fort und wird durch die Zerstörung des Landes infolge des russischen Angriffs sogar noch verstärkt werden.
Die vor dem Krieg erhobenen Daten des Transformationsindex (BTI) der Bertelsmann Stiftung, der die Fortschritte von Staaten auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft misst, liegt die Ukraine unter den zehn wahrscheinlichen EU-Beitrittskandidaten bei der sozioökonomischen Entwicklung auf Platz 1 (und damit sogar vor dem EU-Mitglied Bulgarien) und bei der wirtschaftlichen und politischen Transformation auf Platz 4. Gleichzeitig rangiert die Ukraine bei Rechtsstaatlichkeit nur auf Platz 7 und bei der Markt- und Wettbewerbsordnung sogar nur auf Platz 9.
Die Expert:innen des BTI kommen zu dem Schluss, dass bei Rechtsstaatlichkeit, Justizreform und Korruptionsbekämpfung die größten Defizite bestehen und dass es ohne eine „Entpolitisierung“ der Institutionen schwierig sein wird, die Einflussnahme von Oligarchen und state capture zurückzudrängen. Diese Schwachstellen wirken sich natürlich auch auf den Wirtschaftssektor aus, zum Beispiel wenn es um Privatisierung, ausländische Direktinvestitionen, die Sicherheit von Eigentumsrechten oder das öffentliche Auftragswesen geht.
Gleichzeitig zeigen die BTI-Daten deutlich, dass das Assoziierungsabkommen und die Annäherung an EU-Standards der entscheidende Pull-Faktor für fast alle im BTI gemessenen Fortschritte und positiven Entwicklungen verzeichnet – vor allem im Bereich der Dezentralisierung (die zu einer besseren Regierungsführung der lokalen Regierungen und Verwaltungen führt), aber auch bei Reformen des Bankensystems, der Digitalisierung und der ökologischen Nachhaltigkeit.
Darüber hinaus ist die Stärke der ukrainischen Zivilgesellschaft ein entscheidender Faktor, der langfristig sogar noch relevanter sein könnte als der wirtschaftliche Entwicklungsstand der Ukraine oder die Schwächen des derzeitigen politischen Systems.
Ein mehrstufiger Beitritt könnte der Weg in die Zukunft sein
Angesichts der dramatischen Ereignisse vor Ort verändern sich die Einstellung innerhalb der EU und bei den politischen Eliten und geben dem größeren Ganzen den Vorrang vor rein technischen Aspekten. Aber schon vor der Invasion wurden neue Wege für die Mitgliedschaft von Nicht-EU-Ländern propagiert. So könnte beispielsweise die Idee eines mehrstufigen Beitritts durch „sektorale Integration“, d. h. die Bildung einer Partnerschaft zwischen Assoziierungsabkommen und Vollmitgliedschaft, nun an Zugkraft gewinnen, vor allem, wenn sie als Sprungbrett für letztere gedacht ist.
Ein Beispiel dafür sind die „Kontinentalen Partnerschaften“, die zunächst die Freizügigkeit einschränken, aber Drittländern einen Beobachterstatus bei den EU-Institutionen einräumen. Dieses Modell soll „Ländern mit niedrigem Einkommen … zu erheblichen Mitteln verhelfen, um die institutionelle und wirtschaftliche Konvergenz zu fördern, wobei der Zugang zu den Mitteln von ausreichenden Fortschritten bei der Erreichung dieses Ziels abhängt“.
Unabhängig davon, welches kreative neue Modell sich herauskristallisieren wird, dürfte die Position der Ukraine erheblich gestärkt sein, wenn sie ihre derzeitige Aufopferungsbereitschaft und nachgewiesene Fähigkeit, die europäischen Werte gegen die russische Aggression entschlossen zu verteidigen, mit an den Verhandlungstisch bringen.
Erforderlich ist ein Umdenken der EU – und ein klares Signal an die Ukraine
Die russische Invasion hat also unbeabsichtigt ein strategisches Dilemma auf Seiten der EU gelöst, ein anderes aber zunächst verschärft, ohne dass eine klare Lösung in Sicht wäre. Eine neues, machtvolleres Narrativ der EU als ein grundsätzlich werteorientiertes Projekt, das Sicherheit und Wirtschaft in sich vereint und somit die uralte Dichotomie, ob die EU ein politisches oder wirtschaftliches Projekt ist, überflüssig macht, wäre ein guter Ausgangspunkt.
In künftigen Debatten wird es dann darum gehen, diese Ambitionen kohärent miteinander zu verbinden. In Artikel 49 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), der die Fragen der Mitgliedschaft regelt, heißt es: „Jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden“.
In Anbetracht der Tatsache, dass Putins wahre Furcht die Kombination aus Demokratie und offener Gesellschaft ist und nicht die aus NATO-Raketen und Panzern, sollte eine Rückkehr zur ursprünglichen Bedeutung von Artikel 2 EUV den europäischen Weg nach vorn mit einem klaren Einsatz für einen Kandidatenstatus der Ukraine untermauern. Gegenwärtig trägt die Ukraine diese schwere Last allein, während sie darauf wartet, dass die EU einen neuen Gang einlegt. Die EU sollte die ohnehin unlogische Grenze zwischen Erweiterung und Nachbarschaftspolitik überschreiten und einstimmig erklären, dass die Zukunft der Ukraine natürlich in der EU liegt.
Ein besonderer Dank geht an Sabine Donner vom Team des Transformationsindex (BTI) für die zusätzliche Analyse, die auf dem kürzlich veröffentlichten BTI 2022 basiert.
Der Originalbeitrag wurde am 17. März 2022 auf GED – Global & European Dynamics veröffentlicht.