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Demokratische Nachbarn als Herausforderung für autokratische Narrative

Der Transformationsindex (BTI) der Bertelsmann Stiftung hat in den letzten zehn Jahren weltweit erhebliche Einbußen in der Qualität der Demokratie festgestellt. In allen Kerninstitutionen der demokratischen Regierungsführung sind erhebliche Rückgänge zu verzeichnen. Mehr als ein Viertel aller 137 im BTI erfassten Länder hat sich in den letzten zehn Jahren auf einer 10-Punkte-Skala beim Stand der politischen Transformation deutlich verschlechtert, und zwar um 0,75 Punkte oder (viel) mehr.

Schlechte demokratische Governance und das Märchen autokratischer Überlegenheit

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass diese politischen Rückschritte nicht in einem Vakuum stattgefunden haben. Während die autokratische Verhärtung einer Regimelogik folgte, die darauf abzielte, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, wie kürzlich in Weißrussland zu sehen war, wurde der politische Rückschritt in den Demokratien letztlich durch schlechte Regierungsführung verursacht. Eklatante Misswirtschaft und nicht eingehaltene Versprechen in Bezug auf wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Inklusion waren häufig der Grund dafür, dass sich die Wähler für die autoritär-populistische Karte entschieden, wie in Brasilien oder Ungarn. Schlechte demokratische Regierungsführung hatte nicht nur eine zersetzende Wirkung auf die Stabilität der demokratischen Institutionen und die Zustimmung zur Demokratie auf nationaler Ebene, sondern untergrub auch das Vertrauen in die Demokratie als Leitprinzip für den gesellschaftlichen Wandel.

Genau dieses Versagen der demokratischen Governance wird von der chinesischen Propaganda aufgegriffen. Zwar scheute auch der Kreml keine Mühe, den demokratischen Diskurs in offenen Gesellschaften durch die Diskreditierung von Wahlen und die Verbreitung von Fake News zu untergraben, doch waren dies eher Störfeuer oder richteten sich gegen angebliche westliche Aggression und Dekadenz.

Der chinesische Ansatz hingegen thematisiert die autokratische Überlegenheit. Früher war er subtiler, aber in den letzten Jahren wurde die Propaganda immer unverblümter, vor allem um und nach dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei 2017. In einem von der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua veröffentlichten Kommentar hieß es damals, dass „Krisen und Chaos die westliche liberale Demokratie überschwemmen“, während „das chinesische System zu sozialer Einheit führt und nicht zu den Spaltungen, die eine unvermeidliche Folge des antagonistischen Charakters der heutigen westlichen Demokratie sind.“ Der Mythos der autoritären Überlegenheit schöpft seine Kraft aus einer grundsätzlichen Kritik an demokratischen Prozessen: „Endloses politisches Geschacher, Streit und politische Kehrtwendungen, die das Markenzeichen der liberalen Demokratie sind, haben den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt gebremst und die Interessen der meisten Bürger ignoriert.“ In jüngster Zeit haben asiatische Autokraten laut dem BTI-Regionalbericht 2022 als Reaktion auf COVID-19 „bereitwillig und häufig einen Vergleich zwischen dem ‚erfolgreichen‘ Krisenmanagement der chinesischen Regierung und dem ‚Versagen‘ der westlichen Demokratien gezogen“.

Vielleicht zu lange wurde diese Kritik von demokratischer Seite zu leichtfertig abgetan. Die institutionellen Rahmenbedingungen der Demokratie (und nicht nur ihre Leistungsfähigkeit) als inhärent ineffizient zu diskreditieren, trifft den Nerv unzufriedener Bevölkerungen. In den letzten Jahren haben mehrere Staatsoberhäupter die Rechtsstaatlichkeit mit dem erklärten und populären Ziel untergraben, mehr staatliche Effizienz zu erreichen, wie in Benin, El Salvador, den Philippinen und Tunesien. Bei dieser Argumentation ergeben sich jedoch drei Probleme: Erstens war der Preis, der in Form von Demokratieverlusten gezahlt wurde, hoch, und die angeblichen Effizienz- und Governance-Gewinne kamen nie zustande. Oft haben populistische Regierungen mit autoritären Tendenzen einfach ein neues, eigenes verschwenderisches klientelistisches System eingeführt. Zweitens sind wichtige Aspekte des wirtschaftlichen Erfolgs Chinas eben auch eine Besonderheit des Landes. Das Land verfügt über ein leistungsorientiertes Beförderungssystem und kombiniert wirtschaftliche und administrative Dezentralisierung mit einem System der politischen Zentralisierung, das funktional ist und Loyalität sicherstellt. Diese Aspekte haben nichts mit autoritärem Regieren an sich zu tun und lassen sich auch nicht einfach auf andere Länder übertragen. Und drittens wird das Märchen von der autokratischen Überlegenheit durch Nachbarn gestört, die eine mittelmäßige (Ukraine) oder sehr gute (Taiwan) Regierungsbilanz aufweisen und eine demokratische Alternative bieten.

Die Scorecards autokratischer Regierungsführung

Generell klafft zwischen Demokratien und Autokratien eine große Lücke in Bezug auf Effizienz und Steuerungsfähigkeit. Statt schnell und effektiv im Sinne einer propagierten, gut funktionierenden Entwicklungsdiktatur handeln zu können, liegt die durchschnittliche autokratische Politikkoordination auf der 10-Punkte-Skala des BTI weit unterhalb der von Demokratien (-1,69), die Nutzung verfügbarer Ressourcen ist deutlich weniger effizient (-1,85), und die Diskrepanz zwischen autokratischer und demokratischer Korruptionsbekämpfung ist besonders groß (-2,14). Auch die Steuerungsfähigkeit in Bezug auf Prioritätensetzung, Umsetzung und politisches Lernen ist in Autokratien deutlich schwächer ausgeprägt (-1,91). Bei allen outputbezogenen Aspekten ist der Abstand ähnlich groß. Da autokratische Herrscher kein demokratisches Mandat haben und daher umso mehr darauf angewiesen sind, ihre Legitimität aus ihrer sozialen und wirtschaftlichen Bilanz abzuleiten, ist dies eine verheerende Diagnose. Die Wahrheit ist, dass auf jede gut regierte Autokratie wie Singapur zehn andere autoritäre Regierungen kommen, die hochgradig korrupt, bankrott, enorm ineffizient und auf räuberischem Klientelismus aufgebaut sind. Der Mythos der autokratischen Effizienz ist empirisch schlicht nicht haltbar.

Auch China und Russland schneiden bei der Regierungsführung nicht gut ab. Allerdings spielen sie in ganz anderen Ligen. Wie Odd Arne Westad kürzlich pointiert anmerkte, ist „China ein kommunistischer Staat, in dem die Partei im Namen des Volkes auf angeblich leistungsorientierte Weise regiert“, während „Russland eine personifizierte kleptokratische Diktatur ist, die sich als Demokratie ausgibt“.

Dieser Unterschied spiegelt sich in der Bewertung der Regierungsführung wider, die der BTI 2022 veröffentlicht. China liegt bei der Steuerungsfähigkeit und der Ressourceneffizienz deutlich über dem weltweiten Durchschnitt, hat aber offensichtliche Defizite bei der Konsensbildung und der internationalen Zusammenarbeit. Russland hingegen ist in allen Governance-Kriterien unterdurchschnittlich, ein verschwenderisches, schlecht koordiniertes und erfolgloses Regime, dessen Legitimität schwindet. Während beide Regime mit einer Fülle ähnlicher struktureller Zwänge konfrontiert sind, darunter Umweltzerstörung, regionale Disparitäten und demografischer Wandel, steht Russland vor wesentlich größeren Legitimitätsproblemen.

Autokratische Regime, die unter Druck stehen, neigen dazu, die Repression im Inland und die Aggression im Ausland zu verstärken. Die drastische Beschneidung der politischen Beteiligungsrechte durch die russische Regierung führte in den letzten zehn Jahren zu einem deutlichen Rückgang des politischen Wandels um -0,95 Punkte, ohne jedoch politischen Protest abwürgen zu können. China hingegen hatte von jeher einen sehr niedrigen politischen Transformationsstatus.

In Peking wird die Zentralisierung und Personifizierung der Macht letztlich zu Einbußen bei der politischen Lernfähigkeit und der Kooperationsfähigkeit mit den regionalen Provinzregierungen führen. Verstärkte Überwachung und Repression haben politische Stabilität suggeriert, aber das könnte sich möglicherweise ändern, wenn die Sackgasse einer rigiden Null-Covid-Strategie (oder sogar einer „flexiblen Null“) die Legitimität der Regierungspartei zusätzlich in Frage stellt.

Internationale Folgen

In der internationalen Zusammenarbeit haben China (-1,4 Punkte) und Russland (-1,3 Punkte) stark an Glaubwürdigkeit verloren und eine aggressivere Haltung eingenommen. Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine eskalierte dies nun zu einem Krieg. Der rücksichtslose Angriff war nicht nur ein aggressives Ablenkungsmanöver von innenpolitischen Legitimitätsproblemen und auch nicht nur ein imperialistischer Reflex, um eine vermeintliche westliche Expansion in einen selbst definierten Cordon sanitaire zurückzudrängen. Wie Robert Person und Michael McFaul erläuterten, ist „die Hauptbedrohung für Putin und sein autokratisches Regime die Demokratie und nicht die NATO“. Eine demokratische und erfolgreiche Ukraine wäre eine ständige Herausforderung für das Märchen autokratischer Überlegenheit.

Insofern ist „Taiwans erfolgreiche demokratische Regierung dem Regime in Peking ein ähnlicher Dorn im Auge wie eine demokratische Ukraine dem Regime in Moskau.“ Die Ukraine stellt mit all ihren Demokratiedefiziten und Schwächen in der Regierungsführung eine postsowjetische Alternative zu einem autokratischen russischen Imperium dar, so wie Taiwan eine demokratische chinesische Alternative darstellt, und zwar eine äußerst erfolgreiche. In diesem Sinne, und zusätzlich zu Solidarität und humanitären Erwägungen, steht in der Ukraine jetzt viel auf dem Spiel. Peking wird die Reaktion der demokratischen Regierungen auf diese schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte genau beobachten. Wenn Moskaus Aggression letztlich scheitert und zu einem weiteren Legitimitätsverlust oder möglicherweise sogar zu einem Regimewechsel führt, wird sich Peking zweimal überlegen, ob es sich auf ein solch gefährliches Unterfangen einlässt. Verpasst die Gemeinschaft der Demokratien jedoch die Chance zu einer einheitlichen, unmissverständlichen und entschlossenen Reaktion, wird die chinesische Führung unterstellen, einen größeren Spielraum für Aggressionen gegenüber Taiwan zu besitzen. Der Preis, den das russische Regime zu zahlen hat, muss hoch sein, auch um genau das zu verhindern.

 

Dieser Artikel erschien erstmals am 25. April 2022 im Blog des China Institute an der SOAS, University of London: Democratic neighbours as a challenge to the autocratic superiority tale. Ein herzlicher Dank an Aki Elborzi und seine Kolleg:innen für die hervorragende Zusammenarbeit.

Die Illustrationen sind dem vierten Band von Graphic images entnommen, einer Reihe, die vom superkreativen Brainpool namens Bertelsmann Foundation of North America produziert wird. Ein ganz besonderer Dank geht an unsere Kolleg:innen in Washington für ihre hervorragenden Illustrationen von BTI-Daten.

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