Pink Tide 2.0? Die gleiche Falle wartet
Lateinamerika hat in den letzten Jahren einen politischen Richtungswechsel erlebt, der unter anderem in Peru, Mexiko, Argentinien sowie Chile linke Regierungen an die Macht brachte und im Wahlsieg des ersten linken Präsidenten Kolumbiens, Gustavo Petro, gipfelte. Sollte sich Lula bei den diesjährigen Wahlen in Brasilien durchsetzen, hätten die sechs größten und wirtschaftlich stärksten Länder Lateinamerikas Staatsoberhäupter mit einer linken Agenda.
Bei einigen dürfte diese politische Entwicklung in Lateinamerika ein Déjà-vu auslösen. Bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts gab es eine Reihe von Wahlsiegen linker und Mitte-Links-Kandidaten in der Region. Dieser politische Umschwung, der damals „Pink Tide“ genannt wurde, brachte unter anderem Evo Morales in Bolivien, Rafael Correa in Ecuador und Hugo Chávez in Venezuela an die Macht. Angesichts der Parallelen zwischen der damaligen und jetzigen Entwicklung sprechen verschiedene internationale Medien bereits vom Aufkommen einer neuen „Pink Tide“ in Lateinamerika.
Pink was?
Der Begriff „Pink Tide“ stammt nicht aus der wissenschaftlichen Literatur, sondern aus dem US-amerikanischen Tagesjournalismus. Somit wurden bestimmte lateinamerikanische Länder, die nicht automatisch pro-westlich (d.h. pro-USA) waren, freundschaftliche Beziehungen zu Kuba unterhielten und/oder ihre Beziehungen zu China ausbauen wollten, von den nordamerikanischen Wortschmieden pauschal unter einen rosa Hut gesteckt.
Dieses Freund/Feind-Schema funktioniert allerdings auch in umgekehrter Richtung, in selbstvergewissernder Abgrenzung zur regionalen Vormacht. Linke Spitzenpolitiker der ersten Welle, gleich welcher Couleur, taten sich schwer, Havanna zu kritisieren. Darüber hinaus traten mehrere der von ihnen geführten Regierungen der ALBA bei, einer alternativen regionalen Organisation, die 2004 von Kuba und Venezuela mit dem Ziel gegründet wurde, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und regionale Integration zu fördern sowie dem Einfluss der Vereinigten Staaten und der von ihnen geplanten gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) entgegenzuwirken. Demnach war die Zugehörigkeit zur „Pink Tide“ durchaus identitätsstiftend.
Heterogenität ist das Stichwort
Die US-amerikanische Schablone basierte aber nur auf einem Merkmal, dem der außenpolitischen Ausrichtung, und verwässerte alle anderen Unterschiede zwischen politischen Ausrichtungen unterschiedlichster Couleur. Sowohl damals wie auch heute ist dieser Begriff nicht differenziert genug, um ein so komplexes Mosaik aus verschiedenen politischen Machthabern und politischen Ideologien abzubilden. Dies wird besonders deutlich, wenn man die unterschiedlichen Regierungen des gegenwärtigen Linksrucks und die zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrachtet.
In der ursprünglichen „Pink Tide“ gab es drei Lager. Das eine Lager vertrat eine eher sozialdemokratische Linie, die eine marktwirtschaftliche Ausrichtung mit sozialem Ausgleich verband und in ihrer Mitte-Links-Position durchaus Allianzen mit liberalen und auch christdemokratischen Parteien einging. Das andere Lager hingegen agierte linkspopulistisch mit einem deutlich stärkeren Akzent auf Umverteilung und starkem Staat und reklamierte einen Alleinvertretungsanspruch des Volkswillens, der sich entsprechend mit einer stärkeren Abgrenzung von anderen politischen Strömungen verband. Nicht immer jedoch trafen alle diese Attribute in ähnlicher Ausprägung und Intensität zu. Zum Beispiel waren nicht alle linkspopulistischen Staatsführer automatisch autoritär. Dies traf beispielsweise in unterschiedlichem Maße auf Chávez und Correa zu, aber kaum auf Morales oder später Ollanta Humala. Außerdem verkörperte das rote Kuba eine eigene Gruppe, die im Begriff „Pink Tide“ eingeschlossen wurde.
Die „Pink Tide“ war bereits sehr divers und schloss Demokraten wie Michelle Bachelet in Chile und Autokraten wie Chávez in Venezuela ein; allerdings umfasst der gegenwärtige Linksruck eine noch heterogenere Gruppe von Regierungen, was eine Vereinheitlichung auf der Grundlage eines einzigen Begriffs umso schwieriger macht.
Ein grundsätzliches Unterscheidungsmerkmal, das die Heterogenität dieser neu gewählten linken Regierungen verdeutlicht, sind natürlich ihre politischen Ideologien. So schlägt der chilenische Präsident Gabriel Boric einen ganz anderen Kurs ein als der peruanische Präsident Pedro Castillo oder, im Falle einer erneuten Wiederwahl, die Regierung von Lula. Die in sich heterogene Linksregierung von Boric könnte als sozialdemokratisch grundiert definiert werden und ist stark mit postmateriellen Forderungen verbunden, die von neuen sozialen Subjektivitäten herrühren. Die Regierung von Castillo hingegen folgt einem marxistisch geprägten Diskurs, der sich mit einer Weltanschauung des Hochlandes und indigener Traditionen vermischt, von denen viele kulturell konservativ sind.
Diese Ansichten führen auch zu deutlich unterschiedlichen politischen Programmen. Bei Themen wie Demokratie, Umwelt und Minderheitenrechte gehen die Meinungen weit auseinander. So greifen Boric und Petro soziale Forderungen auf, die auf identitätsbezogene Emanzipation abzielen und in der offensiven Benennung gesellschaftlicher Unterschiede einem linkspopulistischen Diskurs entgegenwirken. So plädieren sie beispielsweise genau wie Argentiniens Alberto Fernández für mehr Rechte für die LGBTQ+-Gemeinschaft, was in der Geschichte der südamerikanischen Linken ein Novum darstellt.
Dies steht im Widerspruch zu den Auffassungen der drei linken Staatschefs, deren Länder der Transformationsindex BTI als harte Autokratien bezeichnet, die aber ebenfalls unter Pink subsumiert werden: Kuba, Nicaragua und Venezuela. Darüber hinaus sprechen sich Politiker wie der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) und Castillo ebenfalls öffentlich gegen die Einführung umfassender LGBTQ+-Rechte aus. Deutliche Unterschiede lassen sich auch bei Aspekten wie der Einstellung gegenüber Gewaltenteilung und demokratischen Institutionen sowie nationalistischer oder kooperativer Ausrichtung beobachten.
Aufgrund dieser Heterogenität sollte es vermieden werden, die verschiedenen Regierungen mit Hilfe eines schwammigen und multifunktionalen Sammelbegriffs zu klassifizieren. Der Begriff „Pink Tide“ war schon vor 20 Jahren irreführend. Heute, mit noch ausgeprägteren Unterschieden zwischen den linken Präsidenten und auch einer vielfältigen, teils durchaus auch kubakritischen außenpolitischen Ausrichtung, ist diese Pauschalisierung erst recht überholt und bei weitem zu ungenau, um einen politischen Trend zu klassifizieren. Daher sollte man im Hinblick auf den gegenwärtigen Linksruck nicht in dieselbe Falle tappen und von der Nutzung des Begriffs „Pink Tide“ absehen. Er verdeckt mehr, als er erklärt.
Eine nicht unbedeutende Gemeinsamkeit
Wird hingegen nicht nach außenpolitischen Gemeinsamkeiten im Sinne einer „Pink Tide“ gefragt, wird der Blick frei für sozioökonomische Entwicklungen, sprich eine eklatante Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich in einem eh von besonders hoher sozialer Ungleichheit geprägten Kontinent, die maßgeblich zum aktuellen Linksruck beigetragen hat.
Der vorherrschende Trend in der Region ist seit einigen Jahren eine Anti-Inkumbenz, zumindest dort, wo die Wahlen fair sind. Dieser Trend ist einerseits darauf zurückzuführen, dass die Wählerinnen und Wähler konservative Regierungen, die mit wirtschaftlicher Stagnation zu kämpfen hatten, ablehnten. Andererseits hat die Pandemie die Uhr für Millionen von Menschen, die zur unteren Mittelschicht gehörten, zurückgedreht. In diesem Zusammenhang schrieb der BTI: „Die bekannten ökonomischen Strukturschwächen Lateinamerikas – extreme Ungleichheit, mangelnde wirtschaftliche Produktivität, zerklüftete Sozialsysteme – hat die Corona-Pandemie wie in einem Brennglas gebündelt offengelegt“.
Wachsende soziale Ungerechtigkeit führte beispielsweise in Peru zu Protesten. Diese Demonstrationen richteten sich vor allem gegen die konservativen Kräfte, aber auch gegen die an einem veralteten Konsens ausgerichteten, statussichernden Parteien der Mitte, die programmatisch blutleer und unglaubwürdig erschienen. Einen ähnlichen Trend kann man auch an den schwachen Wahlergebnissen der Konservativen in Kolumbien ablesen.
Auch deshalb waren die Wahlen in Lateinamerika in den letzten Jahren zunehmend polarisiert, selbst in demokratischen Musterländern wie Chile. Statussicherung in Zeiten zunehmender Armut und Ungleichheit ist nicht mehr konservativ, sondern radikal. Dies führte zum ebenso fulminanten wie folgerichtigen Aufstieg von rechtsradikalen Demagogen wie Jair Bolsonaro in Brasilien, José Antonio Kast in Chile oder Rodolfo Hernández in Kolumbien, die für eine verunsicherte Mittel- und Oberschicht den Platz der geschwächten Konservativen einnahmen. Dies wird die Bemühungen um einen überparteilichen Konsens und die Durchsetzung schwieriger, aber notwendiger Reformen für jede Regierung in den kommenden Jahren zweifellos erschweren.
Umso wichtiger wird sein, dass linke Regierungen in der Lage sind, ein Reformnarrativ zu entwickeln, das über die Grenzen ihrer eigenen Anhängerschaft weitere Teile der Gesellschaft erreicht, überzeugt und mitnimmt. Wie schwer dies in der Praxis zwischen Euphorie nach dem Wahlsieg und erbitterter rechter Opposition ist, erfuhr jüngst die chilenische Regierung, deren Pläne für eine Verfassungsreform zwischen linken Maximalforderungen und identitätspolitischen Partikularinteressen sowie rechter Fundamentalopposition scheiterten. Es wird auch die kolumbianische Regierung erfahren, die in ihren Bemühungen um eine nachhaltige Entwicklung eine auch im BTI-Regionalbericht angemahnte wirtschaftliche Transformation anstrebt und ein „ressourcengetriebenes Wachstum, das von billigen Arbeitskräften und Kapital abhängig ist, während Schritte zu mehr Produktivität und Innovation nur punktuell vorhanden sind“, überwinden möchte. Ihre geplante Dekarbonisierung der Wirtschaft wird auf erbitterten Widerstand etablierter Interessengruppen stoßen. Und es wird auch Lula ein weiteres Mal erfahren, wenn er gegen den Amtsinhaber Bolsonaro im Oktober die Wahlen gewinnen sollte. Das emanzipatorische Reformnarrativ der brasilianischen Arbeiterpartei verlor in dem Maße an Glanz, in dem sie sich vormals zur Mehrheitsbeschaffung im Parlament durch Zuwendungen und Zugeständnisse die Unterstützung des opportunistischen und korrupten Parteiblocks Centrão sichern musste, der aktuell die Regierung Bolsonaro stützt.
Fazit
Der politische, wirtschaftliche und soziale Reformdruck ist groß und hat in zahlreichen Ländern zur Wahl von Linksregierungen geführt, die sich in Ideologie und Programmatik deutlich unterscheiden und sich einer durchgehend „pinken“ Kolorierung entziehen. In den meisten Fällen haben sie keine Bevölkerungsmehrheit hinter sich, sondern wurden von zahlreichen Wähler:innen auch aus Mangel an Alternativen gewählt. Einige dieser Regierungen bringen ein Verständnis für einen emanzipatorischen und zugleich konsensgerichteten Reformbedarf und die Heterogenität ihrer Gesellschaften mit, das es ihnen erleichtern wird, linkspopulistischen Versuchungen zu widerstehen.
Es steht zu vermuten, dass das Zeitfenster zur Entwicklung eines Reformnarrativs für mehr soziale Gerechtigkeit, politische Emanzipation und nachhaltigen Wirtschaftsumbau nicht allzu groß sein dürfte. Der aktuelle Linksruck ist nicht das erste Mal in den letzten zwei Jahrzehnten, dass die verbreitete Unzufriedenheit zu innerregionalen politischen Umschwüngen führte. Die Regierungen, die der ersten „Pink Tide“ zugeordnet wurden, erhielten Zuspruch im verbreiteten Protest gegen soziale Ungleichheit, Sparmaßnahmen und die Privatisierung öffentlicher Ressourcen, die aus dem neoliberalen Wirtschaftsmodell resultierten, das in den meisten Ländern der Region in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert vorherrschte. In ähnlicher Weise konnten die konservativen Parteien an Zustimmung gewinnen, als die Rohstoffpreise Mitte der 2010er Jahre auf eines der niedrigsten Niveaus in diesem Jahrhundert fielen und für die weitgehend von Rohstoffexporten abhängigen Volkswirtschaften in ganz Lateinamerika verheerende Folgen hatten. Ob sich der aktuelle Linksruck in diesen Zyklus einreiht, wird wesentlich davon abhängen, ob es den neu gewählten Regierungen gelingt, gegen hohe Widerstände einen tiefgreifenden sozialen, emanzipatorischen und nachhaltigen Wandel einzuleiten.
Dieser Artikel wurde zuerst in Global Americans am 22. September 2022 veröffentlicht.