Tunesien wählt – und entfernt sich von der Demokratie
Die für Mitte Dezember angesetzten Wahlen werden in Tunesien vermutlich zu einem Scheinparlament führen, das keinerlei demokratische Legitimität besitzt. Damit wären sie nach der turbulenten jüngsten Vergangenheit eine weitere Episode in Richtung Autokratie. Ist diese Entwicklung unumkehrbar?
Als im Januar 2011 die Protestbewegung in Tunesien den Arabischen Frühling auslöste, war die Hoffnung auf Demokratie groß. Mehr als ein Jahrzehnt später steht es indes schlecht um die demokratische Glaubwürdigkeit des Landes. Mit einem Stimmenanteil von 70 Prozent wurde 2019 Kais Saied zum Präsidenten gewählt. Seither entließ er die Regierung, löste das Parlament auf, setzte unabhängige Kommissionen und den Obersten Justizrat ab und schuf eine neue handverlesene Wahlkommission. Gesetze erließ Saied per Dekret und forderte zudem eine neue Verfassung, die er ohne substantielle Bürgerbeteiligung entwarf. Dieses Dokument bildet nun die Grundlage seines autokratischen Präsidialregimes. Das Abrücken von der Demokratie dürfte nach den bevorstehenden Wahlen am 17. Dezember mit der Einsetzung eines Scheinparlaments besiegelt sein.
Unter dem Scheitern der Demokratie leidet auch die Wirtschaft
Saieds Alleinherrschaft bringt Tunesien an den Rand einer politischen und sozioökonomischen Katastrophe. Die schwache Regierung wird von den Direktiven des Präsidenten gelenkt und die Wirtschaft gerät ins Stottern. Die öffentlichen Finanzen stehen kurz vor dem Zusammenbruch, da die tunesische Wirtschaft unter einem beispiellosen Mangel an Öl und wichtigen Rohstoffen leidet. Mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) verhandelte die Regierung mehr als 16 Monaten lang über einen Kredit. Schließlich genehmigte der IWF vorläufig 1,9 Milliarden US-Dollar für einen Zeitraum von 4 Jahren, was weniger als einem Drittel des beantragten Kreditvolumens entspricht. Die Auflagen des IWF erfordern umfangreiche Wirtschaftsreformen, die der Gesellschaft einiges abverlangen werden.
Der Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI) zeichnet die wirtschaftliche Entwicklung des Landes nach: Bei der Einführung des Index im Jahr 2006 lag die Bewertung der wirtschaftlichen Leistung Tunesiens bei 9 von 10 möglichen Punkten, was bedeutet, dass die Wirtschaft auf solidem Wachstumskurs war. Seither brach dieser Wert auf aktuell nur noch 5 Punkte ein. Mit einem Demokratiestatus von 6,6 Punkten gehört Tunesien gleichzeitig in die Kategorie der „defekten Demokratien“. Die BTI-Autoren stellen für den Berichtszeitraum 2021 fest: „Das Wirtschaftsmodell des Landes hat sich kaum verändert und vielen Tunesiern keine Besserung gebracht, insbesondere nicht den jungen Menschen.“
Da die Armut zunimmt und Sicherheitsnetze kaum vorhanden sind, entscheiden sich immer mehr Tunesier für die Migration. Während viele gebildete Menschen, beispielsweise Ärzte, legale Wege finden, bleiben anderen nur illegale, die häufig in humanitären Katastrophen im Mittelmeer enden.
Auf politischer Ebene greift die Krise inzwischen tief. Es mangelt an Rechenschaftspflicht: Der Präsident hat in 16 Monaten mehr als 60 Dekrete ohne Konsultation erlassen. Zu den populistischen Taktiken des Präsidenten gehören der Boykott politischer Parteien, die Dämonisierung der Zivilgesellschaft und der Medien, die Schließung oder Kooptierung unabhängiger Kommissionen, die Verunglimpfung intellektueller und wirtschaftlicher Eliten und die Instrumentalisierung der internationalen Gemeinschaft. Nachdem der Präsident in den ersten Monaten seiner Amtszeit durchaus von breiter Unterstützung und Sympathie getragen worden war, hat er inzwischen den Großteil der informierten Öffentlichkeit und der nationalen Elite verprellt. Die Unterstützung der Öffentlichkeit schwindet, wie die geringen Beteiligungen an der E-Konsultation vom März 2022 und am Referendum vom Juli 2022 zeigen. Frühere Unterstützer wenden sich nun gegen den Präsidenten, darunter auch einige Mitglieder seines inneren Kreises, beispielsweise die ehemalige Stabschefin Nadia Akacha, die nach einem erzwungenen Rücktritt emigrierte.
Einsatz und Missbrauch von Wahlen
Die Maßnahmen des Präsidenten bestimmen die Wahlen im Dezember, nicht zuletzt seine Entscheidung, die gewählte und von der internationalen Gemeinschaft hoch geschätzte Unabhängige Hohe Wahlkommission zu ersetzen. Das von ihm einseitig entworfene neue Wahlgesetz verbietet den politischen Parteien, Kandidaten aufzustellen und zu unterstützen. Dieses Wahlsystem begünstigt Menschen, die lokal bekannt sind, eliminiert die Wahlchancen von Frauen und fördert die Zersplitterung des politischen Spektrums. Das neue Wahlgesetz und seine Unsicherheiten in Verbindung mit einer Reihe offizieller Entgleisungen haben die meisten politischen Parteien dazu veranlasst, den Urnengang zu boykottieren.
Doch lässt sich dieses Abdriften in die Autokratie unter den bestehenden Rahmenbedingungen korrigieren? Die Antwort lautet: Wahrscheinlich nicht. Tunesien braucht eine neue politische Ordnung und einen neuen Gesellschaftsvertrag, einschließlich einer neuen Verfassung, neuer demokratischer Institutionen und einer neuen Vision für eine Wirtschaftsreform, von der mehr Menschen profitieren können. Drängende Fragen müssen geklärt werden. Kann Tunesien ohne Schaden diese Reife erlangen? Kann sich die Wirtschaft in dieser politisch instabilen Lage fangen? Kann die internationale Gemeinschaft einen solchen Anpassungsprozess unterstützen?
Die Mehrheit nationaler Akteure – Politiker, Meinungsführer, Wissenschaftler, sowie Vertreter von Gewerkschaften und Zivilgesellschaft – ist gegenwärtig gegen den Präsidenten, auch wenn einige dabei lauter sind als andere. Die Wirtschaft hingegen schweigt, wahrscheinlich um ihre Interessen zu wahren oder aus Furcht, wegen Verhaltensweisen wie Klientelismus und Steuerhinterziehung angeprangert zu werden. Momentan sieht es so aus, als würde das Abweichen von demokratischen Standards weiter fortschreiten. „Das Land braucht dringend Reformen, die den Wohlstand für mehr Menschen sichern“, schreiben die Autoren des BTI in ihrem jüngsten Tunesien-Bericht. „Doch selbst angesichts des Drucks der internationalen Finanzinstitutionen ist der Widerstand bestimmter Interessengruppen groß.“
Leider reagiert die internationale Gemeinschaft bislang nicht entschieden genug. Das gilt besonders für die Europäische Union, der die vorgetäuschte Stabilität autokratischer Regime wichtiger zu sein scheint als das gesellschaftliche Aushandeln von Transformation, obwohl genau darin ein wichtiger Schritt zur Schaffung echter Demokratien besteht.
Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.