Modis Monopol: Indiens politische Vielfalt schwindet
In der größten Demokratie der Erde wird gewählt. Doch bereits vor dem Ende der Parlamentswahlen in Indien deutet sich an, dass es mit Narendra Modi eigentlich nur einen Sieger geben kann. Der Premierminister hat seine Macht konsolidiert und politische Alternativen an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt. Wie hat er das geschafft?
Zwischen dem 19. April und dem 1. Juni werden in Indien mehr als 900 Millionen wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger zu den Wahlurnen gerufen. Die alle fünf Jahre stattfindende Wahl entscheidet über eine neue Mehrheit im Unterhaus des indischen Parlaments (Lok Sabha), das wiederum eine Person für das Amt des Premierministers nominiert. Die beiden vergangenen Wahlen 2014 und 2019 gewannen die Indische Volkspartei (BJP) und ihr Spitzenkandidat Narendra Modi deutlich. Bei der letzten Wahl erlangte die BJP sogar eine historische absolute Mehrheit. Auch nach zehn Jahren als Regierungschef bleibt Narendra Modi auf nationaler Bühne ohne ernstzunehmende Konkurrenz. Nach einem guten Jahrzehnt des relativen Misserfolgs seiner Partei zu Beginn der 2000er-Jahre ist Modi der entscheidende Grund für den anhaltenden Erfolg der BJP.
Modis Mission ist es, das politische Erbe der Staats- und Verfassungsväter weitestgehend hinter sich zu lassen und eine neue identitätsstiftende Vision Indiens zu begründen. In den Augen der Anhängerinnen und Anhänger der BJP steht die von Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru geprägte Kongress-Partei heute in erster Linie für Korruption, Misswirtschaft und Klientelpolitik. Modi inszeniert sich in diesem Zusammenhang als anpackender Self-Made Man, der dem indischen Staat aufopferungsvoll sein gesamtes Leben widmet. In ihrer politischen Programmatik heben Modi und die BJP laut dem Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI) vor allem drei zentrale Komponenten hervor: eine Hindu-Leitkultur, die stärkere Anbindung an internationale Märkte sowie den Ausbau staatlich geförderter Investitions- und Sozialprogramme.
Zwischen Besonnenheit und radikaler Ideologie
Der Aufstieg von Narendra Modi gründet zunächst auf seinem langen Engagement in hindunationalistischen Organisationen. Als Premierminister positioniert Modi sich als politischer und spiritueller Anführer der hindunationalistischen Bewegung, die seit 2014 zur bedeutendsten politischen Kraft geworden ist. Im Zentrum dieser Bemühungen steht die Hindu-Leitkultur (Hindutva), die einen Rahmen für gesellschaftlich akzeptiertes und unerwünschtes Verhalten vorgibt, nach der sich vor allem auch Vertreter:innen von Medien, Presse und Zivilgesellschaft richten sollen. Mit Rückbezügen auf antike Schriftwerke wie die Mahabharata und das Ramayana fördert die Regierung ein nationales Selbstverständnis, das Indien als eine jahrtausendealte „Zivilisationsmacht“ charakterisiert. In diesem Zusammenhang werden insbesondere die Muslime, welche 14 Prozent der Bevölkerung ausmachen, immer mehr zu Bürger:innen zweiter Klasse. Während noch radikalere fundamentalistische Kräfte seit 2014 an Einfluss gewonnen haben, bemüht Modi innerhalb seiner politischen Bewegung zumeist das Image eines besonnenen und vernünftigen Regierungschefs.
Das zweite Versprechen Modis ist eines an die wirtschaftliche Elite des Landes. Seit der ersten Welle der Liberalisierung zu Beginn der 1990er-Jahre gibt es in Indien ein kontinuierlich steigendes Interesse am Freihandel mit strategischen Partnern sowie einer größeren Teilhabe an der Globalisierung. Für Wirtschaftsliberale gilt Modi als große Hoffnung, da er eine pragmatische Handelspolitik anstrebt, die den Standort Indien stärkt und es indischen Unternehmen ermöglicht, künftig besser an internationalen Lieferketten teilzuhaben. Die Entscheidung des US-amerikanischen Tech-Konzerns Apple, Teile seiner iPhone-Produktion von China nach Indien zu verlagern, steht sinnbildlich für diesen Anspruch, die eigene wirtschaftliche Relevanz zu steigern und in globale Prozesse zu integrieren. Und doch hat seine Regierung gerade in den vergangenen Jahren wenig getan, um die wirtschaftliche Liberalisierung voranzutreiben. Zuletzt wandte sie sich sogar eher wieder einer Importsubstitutionspolitik zu, womit die Modi-Regierung internationale Tendenzen eines erstarkenden Protektionismus mitträgt.
Das dritte Standbein in Modis politischer Strategie stellen die vielseitigen von ihm mit-initiierten Sozialprogramme dar. Hierzu zählen einerseits Projekte, welche Technologie- und entwicklungspolitische Zielsetzungen miteinander verknüpfen. So steht die Einrichtung eines digitalen Ausweises (Aadhaar) für knapp 1,4 Milliarden Bürgerinnen und Bürger Indiens sinnbildlich für das angestrebte Ziel, eine digitale Supermacht zu werden, welche allen Menschen einen gleichen Zugang zum Internet gewährt. Andererseits setzt die Regierung auch auf Wahlgeschenk-Programme, die sich in Indien seit geraumer Zeit als effektives Wahlkampfinstrument erwiesen haben. So senkte die Modi-Regierung zuletzt unter anderem die Preise von Gaszylindern, um wirtschaftlich schwache Wählerschichten anzusprechen.
Liberalisierung oder Abschottung?
Klar ist, wer die BJP und Modi künftig an der Wahlurne schlagen möchte, muss klare Alternativen in Fragen der politischen Identität, der Wirtschafts- und der Sozialpolitik anbieten. Zudem benötigt die Opposition neue Führungspersönlichkeiten. Denn in den vergangenen zehn Jahren ermöglichte insbesondere Modis Charisma und sein Führungsstil den Erfolg in den drei vorgestellten Themenfeldern. Seine Fähigkeiten halfen ihm außerdem zu kaschieren, dass die drei politischen Versprechen nicht nur in Einklang miteinander stehen.
Sollte Modi auch diese Wahlen für sich entscheiden stellt sich deshalb die Frage, wie er seine drei Versprechen im Falle einer wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Krise priorisiert. Würde Indien beispielsweise, ähnlich wie es bereits nach dem Jahr 1990 der Fall war, einen weiteren Liberalisierungsschub erleben? Oder könnten neue wirtschaftliche Herausforderungen zu einer noch stärkeren Importsubstitutionspolitik in Indien führen? Im Hinblick auf den zuletzt erschienen Bertelsmann Transformationsindex erscheinen beide Optionen als realistische Szenarien. Für künftige Regierungen in Indien bedeutet die Befassung mit diesen Fragen, sich den Diskursen und Thesen zu stellen, die der mächtigste Politiker des Landes in den vergangenen Jahren gesetzt hat. Denn welches der drei zentralen Versprechen Modis sich letztlich stärker durchsetzen kann, wird auch maßgeblich darüber entscheiden, welche Außenpolitik die Indische Republik in Zukunft betreiben wird.