Ein Mann, ein Staat: Vučić und die Studentenproteste in Serbien
Eine Tragödie am Bahnhof von Novi Sad hat Ende 2024 die größten Studentenproteste in Serbien seit Jahrzehnten ausgelöst – und eine neue Generation im Kampf gegen den jahrelangen Abbau demokratischer Rechte geeint. Ob die Bewegung Geschichte schreiben kann, hängt jetzt vor allem davon ab, ob Studierende und Oppositionsparteien zueinanderfinden.
Die Studentenproteste in Serbien dauern an – und haben die Gesellschaft und die politische Landschaft bereits erheblich beeinflusst. Für das repressive Regime von Präsident Aleksandar Vučić sind sie die größte Herausforderung seit Jahren. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass seine Regierung unter dem Druck der Proteste zusammenbricht: Erstmals seit Vučićs Machtübernahme im Jahr 2012 zeigt der politische Status quo erste Risse.
Die Studentenproteste begannen Ende 2024 als Reaktion auf einen Unfall am Bahnhof der Stadt Novi Sad, der erst kurz zuvor renoviert worden war. Ein Teil des Dachs stürzte ein, 16 Menschen kamen ums Leben. Kritiker machten Korruption und institutionelles Versagen für die Tragödie verantwortlich. Wenige Wochen später griffen Mitglieder von Vučićs Serbischer Fortschrittspartei (SNS) dann eine kleine Gruppe friedlich protestierender Studenten an. Dieser Gewaltakt ließ den Funken überspringen und löste eine Welle der Solidarität an den Universitäten aus, wo Studenten Vorlesungen störten, und zu groß angelegten Protesten aufriefen.
Von Tragödie zu Massenmobilisierung
Die Studentenproteste sind bei weitem nicht die ersten regierungskritischen Demonstrationen in Serbien. Sie haben dank der überraschend engagierten Beteiligung jüngerer Menschen – insbesondere Generation Z, die zuvor als weitgehend politisch desinteressiert galt –, jedoch eine besondere Anziehungskraft entwickelt. Die Bewegung brach schon früh alle Beteiligungsrekorde und hat eine ganz Gruppe neuer sozialer Bewegungen um sich versammelt, die allesamt eine klare Mission verfolgen: die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Diese Werte sind in Serbien spätestens seit 2012 akut bedroht und werden durch Vučićs autoritäre Herrschaft immer stärker untergraben. So stellt der Länderbericht 2024 des Transformationsindex BTI fest, dass das serbische Wahlsystem zunehmend unter Beschuss steht: Oppositionsparteien können zwar noch teilnehmen, die Spielregeln sind jedoch bereits stark verzerrt und begünstigen die SNS. Das Gleiche gilt für die Medien, die mittlerweile zum Großteil in den Händen der regierungsnahen Elite konzentriert sind und sich in ihrer Berichterstattung entsprechend regierungsfreundlich positionieren. Der BTI verzeichnet darüber hinaus auch negative Tendenzen bei anderen Schlüsselfaktoren: darunter zum Beispiel bei der Meinungsfreiheit (von zuvor 4 Punkten auf 3 von 10 Punkten), bei der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie bei der Unabhängigkeit der Justiz (von zuvor 6 Punkten auf 5 von 10 Punkten).
Sowohl mit Blick auf diese Entwicklungen als auch mit Blick auf die Zukunft des Landes hat die Studentenbewegung Anfang des Jahres großen Optimismus verbreitet. Gleichzeitig hat sie aber auch unrealistische Erwartungen genährt: etwa, dass der Sturz des Regimes unmittelbar bevorstehe. Dabei stehen der Sicherheitsapparat und große Teile der klientilistischen Netzwerke im Land weiterhin eng an Vučićs Seite. Um das zu ändern hätte die Protestbewegung schon früh mit potenziellen Überläufern verhandeln müssen. Dafür fehlte es jedoch an den entsprechenden Führungspersonen.
Hoffnung trifft auf politische Realität
Seit die Studentenbewegung Anfang Mai vorgezogene Parlamentswahlen gefordert hat, richtet sich die Aufmerksamkeit im Kampf gegen Vučić aber wieder auf den einzig legalen und gangbaren Weg, um sein Regime zu beenden: seine Abwahl. Die Hoffnung der Bewegung ist es, sich bei potenziellen Neuwahlen einen so großen Vorsprung zu erarbeiten, dass sich die Regierung selbst durch etwaige Manipulationen nicht retten kann. Und es gibt durchaus Gründe für vorsichtigen Optimismus: Zum ersten Mal seit 2012 scheint die SNS in Umfragen verwundbar. Zudem zeigen die Stimmungsbarometer, dass die Bevölkerung zunehmend unzufrieden ist – mit der Regierung und auch mit Vučić selbst. Während ihre Kernwählerschaft der Partei loyal bleibt, wenden sich immer mehr zuvor unentschlossene oder desinteressierte Bürger gegen das Regime. Zudem wurden bei den Kommunalwahlen im Juni Beteiligungsrekorde gebrochen – und die Opposition verzeichnete starke Ergebnisse. Prognosen von Spring Insight gehen davon aus, dass die Wahlbeteiligung bei den nächsten Parlamentswahlen die höchste seit fast 20 Jahren sein könnte.
Eine ganze Reihe von Herausforderungen bleibt aber trotzdem bestehen. So sind die großen serbischen Oppositionsparteien weiterhin zersplittert und arbeiten ineffektiv. Potenzielle Wähler sind deshalb verunsichert. Sie geben zwar mitunter an, eine von der Studentenbewegung unterstützte und noch nicht näher definierte Koalition wählen zu wollen. Wie diese genau aussehen soll, ist bislang allerdings noch unklar.
Das liegt mitunter auch daran, dass die Studenten eine direkte Zusammenarbeit mit den Oppositionsparteien ablehnen. Sie befürchten, dass ihre Bewegung von der Politik „gekapert“ werden könnte. Gleichzeitig besteht innerhalb der Opposition die Sorge, dass die Popularität der Studenten sie in die politische Bedeutungslosigkeit stürzen könnte. Dieses gegenseitige Misstrauen verhindert bislang eine geeinte Front gegen das Regime.
Der Weg zu den Wahlen
Ohnehin ist bislang noch völlig unklar, ob es wirklich zu vorgezogenen Parlamentswahlen kommen wird. Vučić könnte immerhin auch auf die gesetzlich festgelegte Frist pochen, die vorsieht, dass die Wahlen bis spätestens zum 31.12.2027 abgehalten werden können. Strategisch gesehen ist das jedoch ein zweischneidiges Schwert: Einerseits könnte der Präsident die zusätzliche Zeit dazu nutzen, seine Gegner weiter zu spalten – andererseits könnten sich in diesem Zeitraum auch die Risse innerhalb der Regierung vertiefen. Immerhin zeigt das Regime schon seit November letzten Jahres erste Ermüdungsanzeichen – und der gesellschaftliche Wunsch nach politischem Wandel wächst stetig. Bislang war die SNS nicht in der Lage, diesen Trend umzukehren.
Unabhängig davon, wann die Wahlen stattfinden, wird das Regime auf diesen Trend voraussichtlich mit verschärften autoritären Maßnahmen reagieren. Indem sie unabhängige Medien und die Zivilgesellschaft noch strenger kontrolliert, soll ihre Macht konsolidiert werden. Dabei setzt Vučić auf die Medien- und Institutionsverdrossenheit, die in den vergangenen Jahren nicht nur in Serbien, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt zugenommen hat. Der Präsident wird Serbien nicht im Handumdrehen in ein zweites Belarus verwandeln können, da die Maßnahmen dafür zu einschneidend wären und dies innenpolitische und außenpolitische Reaktionen, besonders aus Brüssel, zur Folge hätte. Allerdings ist Vučić durchaus in der Lage, die liberale Demokratie noch weiter zu unterwandern, als er es bislang getan hat.
Zuerst veröffentlicht auf European Western Balkans