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GenZ-Proteste in Antananarivo, 2025. Photo by Raveloaritiana Mamisoa / Wikimedia Commons – CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.en

Madagaskars unvollendete Revolution: Bricht ein Jugendaufstand den politischen Teufelskreis?

In Madagaskar hat eine von Gen-Z angeführte Revolte einen Präsidenten gestürzt und eine vom Militär geführte Übergangsphase eingeleitet. Ob dieser Moment zu einem demokratischen Wendepunkt wird – oder nur eine weitere Schleife in Madagaskars langem Krisenzyklus – ist allerdings noch völlig offen.

Seit September befindet sich Madagaskar in einer politischen Krise, die Präsident Andry Rajoelina gestürzt und ein vom Militär geführtes Übergangsregime an die Macht gebracht hat. Was als kleine Demonstrationen von Gen-Z-Aktivisten in der Hauptstadt Antananarivo begann — ursprünglich gegen Wassernot und Stromknappheit — entwickelte sich schnell zu einer landesweiten Bewegung, die durch Influencer und oppositionelle Stimmen geprägt und verstärkt wurde. Die Proteste breiteten sich in Windeseile auf andere Städte wie Toamasina, Antsiranana und Toliara aus. Bei gewaltsamen Zusammenstößen mit Sicherheitskräften wurden viele Menschen verletzt und mindestens 22 getötet, auch wenn die Regierung diese Zahlen der Vereinten Nationen bis heute bestreitet.

Die Frustration eines ganzen Landes über jahrelange Entbehrungen und politische Einschränkungen führte kulminierte in nur wenigen Tagen zu einer offen Forderung nach Rajoelinas Rücktritt.

Das Militär schreitet ein

Der Wendepunkt kam am 11. Oktober, als das sogenannte Corps d’administration des personnels et des services administratifs et techniques (CAPSAT) die Seiten wechselte und sich kurzerhand den Demonstranten anschloss. Dieses Schauspiel spielte sich auf dem symbolträchtigen Place du 13 Mai in Antananarivo ab — jenem Platz, der seit 1972 mit mehreren großen Protesten verbunden ist, die letztlich zum Sturz von Regierungen geführt haben. Dass sich das Militär von der Regierung abwendete, weckte Erinnerungen an die Krise von 2009, die sich ganz ähnlich abspielte.

Einen Tag nach diesen Ereignissen verließ Präsident Rajoelina abrupt das Land. Während die Regierung behauptete, er sei auf einer Auslandsreise, berichteten ausländische Medien, er sei mit einem französischen Militärflugzeug von der Insel Sainte Marie evakuiert worden. Rajoelina selbst behauptete später in einer Erklärung über soziale Medien, dass er Morddrohungen erhalten habe, und an einem „sicheren Ort” sei.

Eine verfassungsrechtliche Auseinandersetzung

Der 14. Oktober war von Eskalationen und Chaos geprägt. Die Nationalversammlung kündigte an, dass sie sich zusammenfinden werde, um Rajoelina seines Amtes zu entheben. Als Reaktion darauf erließ das Büro des Präsidenten ein Dekret zur Auflösung der Versammlung. Die Abgeordneten – sowohl aus der Opposition als auch aus den Reihen der Unabhängigen und sogar der Regierungspartei – ignorierten das Dekret allerdings und stimmten unbeirrt für Rajoelinas Amtsenthebung.

Einige Stunden später erklärten die CAPSAT-Truppen unter der Führung von Oberst Michaël Randrianirina, sie würden „die Verantwortung“ für das Land übernehmen. Rajoelinas Verbündete bezeichneten diesen Schritt als Staatsstreich. Das Militär beharrte derweil darauf, es handle sich um eine notwendige Intervention.

Recht bekamt CAPSAT schlussendlich von dem Verfassungsgericht, das sich angesichts der chaotischen Lage zu einem beispiellosen Schritt entschied: Es bestätigte die Machtübernahmedes Militärs und lud Randrianirina praktisch dazu ein, das Land zu führen. Sein Anspruch auf das höchste Amt des Landes wurde damit über Nacht legitimiert.

Die „Neugründung” beginnt

Am 17. Oktober wurde Randrianirina als Präsident der „Neugründung der Republik Madagaskar” vereidigt und leitete eine zweijährige Übergangsphase ein. Neben anderen Reformmaßnahmen, die in einem Sechs-Stufen-Plan dargelegt sind, versprach die neue Führung, eine „nationale Konsultation” durchzuführen, ein Verfassungsreferendum zu organisieren und neue Präsidentschaftswahlen abzuhalten.

Das Konzept der „Neugründung“ ist in Madagaskar seitdem zu einem geflügelten Wort geworden: das Versprechen, mit Jahrzehnten der Korruption, Vetternwirtschaft und institutioneller Schwäche zu brechen. Gen-Z-Aktivisten forderten dementsprechend einen Austausch aller wichtigen politischen Führungskräfte. Dazu kam es jedoch nicht. Schon die Ernennung von Premierminister Herintsalama Rajaonarivelo, der angeblich Verbindungen zum Umfeld des ehemaligen Regimes pflegt, löste die erste Kontroverse aus — und ließ Zweifel daran aufkommen, wie tiefgreifend die Erneuerung tatsächlich sein würde.

Geht es um Recht oder politische Rachegelüste?

Eine Welle von Verhaftungen und Durchsuchungen, die sich gegen Personen aus dem Umfeld des ehemaligen Machtzirkels richteten, hat die seitdem wachsende Unruhe noch verstärkt. Während die neuen Behörden diese Maßnahmen als Kampf gegen die Korruption darstellen, sehen Kritiker darin ein Echo früherer Zeiten, in denen das Justizsystem von Regierungen als Waffe gegen ihre Gegner eingesetzt wurde. Die Grenze zwischen Rechenschaftspflicht und politischen Rachegelüsten verschwimmt einmal mehr.

Die jüngsten Unruhen sind die sechste große politische Krise Madagaskars seit der Unabhängigkeit des Landes — nach denen von 1972, 1991, 2002, 2009 und 2018. Im Gegensatz zu diesen Jahren wurde die Revolte von 2025 jedoch nicht von der politischen Elite angeführt, sondern von jungen Bürgern, die mehr Chancen und bessere Regierungsführung fordern. Eine Entwicklung, die vor allem durch die Wut über die stetige Erosion des Staats und der Bürgerrechte ausgelöst wurde.

In einem Land, das ohnehin schon mit einer starken sozialen und wirtschaftlichen Fragilität zu kämpfen hat, steht jetzt enorm viel auf dem Spiel. Wie der Bertelsmann Transformation Index (BTI) zeigt, hat Madagaskar innerhalb der vergangenen 20 Jahren eine starke politische und soziale Rückentwicklung durchgemacht: Indikatoren wie Meinungsfreiheit (von 8 auf 3) und Engagement für demokratische Institutionen (von 9 auf 3) sind drastisch gesunken und auch Wirtschaftsindikatoren wie Marktorganisation und Handelsliberalisierung stagnieren auf einem relativ niedrigen Niveau.

Gemische internationale Reaktionen

In Bezug auf die aktuelle politische Lage scheint die internationale Gemeinschaft gespalten zu sein. Einerseits haben viele ausländische Diplomaten an der Vereidigung von Randrianirina teilgenommen. Andererseits hat die Afrikanische Union Madagaskar suspendiert. Gleichzeitig hat die Organisation mittlerweile jedoch Gesandte zur Vermittlung in das Land geschickt. Inwiefern sich das neue Regime Zugang zu internationalen Finanzmitteln und politischer Unterstützung aus dem Ausland verschaffen kann, steht angesichts dieser zweideutigen Signale in den Sternen.

Diplomatisch hat die Übergangsregierung Offenheit gegenüber allen Partnern signalisiert, sich jedoch deutlich in Richtung Russland orientiert: Der russische Botschafter war der erste ausländische Vertreter, der nach seiner Amtseinführung mit dem „ en” Randrianirina zusammentraf, und der neue Präsident der Nationalversammlung, Siteny Randrianasoloniaiko, reiste kurz darauf nach Moskau.

Am Scheideweg: Erneuerung oder Wiederholung?

Alle Augen richten sich nun auf die sogenannte nationale Konsultation, jenen Termin, der voraussichtlich von dem einflussreichen ökumenischen Rat der christlichen Kirchen Madagaskars einberufen werden wird. Der Prozess soll die langfristige politische Zukunft des Übergangs festlegen, einschließlich der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Dennoch ist Skepsis angebracht. Immerhin zeigen die jüngsten Ereignisse einmal mehr, dass die meisten madagassischen Bürger die Demokratie unterstützen und eine Militärherrschaft ablehnen, gleichzeitig jedoch durchaus dazu bereit sind, einen Militärputsch zu tolerieren, wenn Politiker ihre Macht missbrauchen. Eine weitverbreitete Grundhaltung, die Risiko läuft, die Demokratie selbst zu schwächen.

Dennoch zeichnen sich auch bereits zukunftsorientierte Debatten ab: Sollte Madagaskar ein Einheitsstaat bleiben oder sich in Richtung Föderalismus bewegen? Sollte die Dezentralisierung endlich gestärkt werden? Und wann wird ein Verfassungsreferendum genau stattfinden?

Die Antworten darauf werden darüber entscheiden, ob Madagaskar endlich dem Teufelskreis der Instabilität entkommen kann – oder ob auch dieser Moment, wie so viele zuvor, in den bekannten Ablauf aus Hoffnung, Umbruch und Enttäuschung abgleiten wird.

Zuerst veröffentlicht bei African Arguments

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