Demokratie in Aktion: Das Superwahljahr 2024
Mit über 70 Wahlen und 4,2 Milliarden Wähler:innen ist das Jahr 2024 ein Meilenstein für die politische Beteiligung. Nachdem nun die Hälfte dieses Superwahljahres vorüber ist, ist es an der Zeit, eine Bilanz der bisherigen Ergebnisse zu ziehen, einen Ausblick auf das Kommende zu geben und ein neues Instrument des BTI vorzustellen, mit dem sich 47 Wahlen von Algerien bis Venezuela verfolgen lassen: der BTI-Wahlkalender.
Von Sheinbaums Erdrutschsieg in Mexiko mit der Regierungspartei Morena bis hin zu den Scheinwahlen in Russland, Aserbaidschan und Bangladesch, welche wenig Platz für demokratische Beteiligung und fairen Wettbewerb ließen, gab es bisher viele vorhersehbare Ergebnisse im globalen Wahljahr 2024.
Dennoch gab es auch Überraschungen. Die beiden langjährigen Regierungsparteien in Indien und Südafrika erlebten Brüche in ihrer monopolistischen Machtausübung, während in Panama freie und faire Wahlen stattfanden – wenn auch nicht ohne Zweifel an der demokratischen Konsolidierung des Landes. In Europa führten die Wahlergebnisse vom Juni zu einer Verschiebung des politischen Spektrums im Parlament nach rechts, wobei die Rechtsextremen vor allem in Frankreich und Deutschland die größten Zugewinne erzielten.
Abgesehen von den allgegenwärtigen US-Wahlen im November zeigt ein Blick auf den Rest des Jahres eine Vielzahl von Wahlen, die in verschiedenen Regionen der Welt stattfinden. Bei einigen scheint der Ausgang schon vorher festzustehen, während andere mit unvorhersehbaren Ergebnissen überraschen könnten. Dieser Text wirft einen Blick auf die kürzlich stattgefundenen Wahlen in Ruanda und die bevorstehenden Wahlen in Botswana und Georgien.
Rückblick: das Superwahljahr 2024
In Südafrika verlor der Afrikanische Nationalkongress (ANC) zum ersten Mal seit 30 Jahren die absolute Mehrheit im Parlament – nun sucht dieser nach einem Bündnis, um regieren zu können. In Indien gelang es Narendra Modi und seiner hindu-nationalistischen Agenda mit der Bharatiya Janata Party (BJP) nicht, die absolute Mehrheit in der Lok Sabha, dem Unterhaus Indiens, zu erreichen. Jetzt steht Modi, ähnlich wie Cyril Ramaphosa in Südafrika, vor unbekanntem politischem Terrain. Die Welt wird gespannt beobachten, wie sich ihre Regierungen unter den neuen Umständen formen und agieren.
Die Wahlen in Indien, Südafrika und auch in Panama haben deutlich gezeigt, dass demokratische Partizipation lebendig ist und – was am wichtigsten ist – den Menschen etwas bedeutet. Während jedoch in Indien und Südafrika die langfristige Herrschaft einer Partei eine wackelige Grundlage für die demokratische Konsolidierung schafft, ist Panama ein Beispiel dafür, dass ein klientilistisches politisches Umfeld in diesem Jahr Anlass zur Besorgnis gegeben hat.
Klientelpolitik lähmt den Transformationsprozess in Panama, auch wenn Faktoren wie der faire und gleichberechtigte Zugang der Kandidaten zu den Medien auf freie und faire Wahlen hindeuten. Problematisch sind jedoch die schwerfälligen Registrierungsverfahren für unabhängige Kandidaten, uneinheitliche Bewerbungen und Änderungen der Wahlordnung. Trotz alledem ist das diesjährige Präsidentschaftsrennen mit acht verschiedenen Kandidaten ein Beispiel für demokratische politische Partizipation. Am Ende gewann José Raúl Mulino mit über 35 % der wahlbeteiligten Stimmen und sicherte seiner Partei Realizando Metas die Präsidentschaft.
Reichen Wahlen aus, um Demokratie zu gewährleisten?
Keine Wahl gleicht der anderen. Am 7. Februar fanden in Aserbaidschan Wahlen statt. In einem Land, in dem seit über 15 Jahren Wahlen nicht frei und fair gestaltet werden, war es diesmal nicht anders. Ilham Alijew, der seit 2003 an der Macht ist, gewann eine fünfte Amtszeit und erhielt offiziell mehr als 92 % der Stimmen. Um seine Macht weiter zu festigen, hatte Alijew die Wahlen zwei Jahre vor dem eigentlichen Termin ausgerufen, nachdem er die Kontrolle über die Region Karabach von Armenien übernommen hatte. In den letzten 15 Jahren hat er die Wahlkommissionen systematisch mit regimetreuen Anhängern besetzt, die Amtszeitbeschränkung des Präsidenten aufgehoben und die Medien unter Staatskontrolle gebracht. Es überrascht nicht, dass dies zu einem schwindenden nationalen Interesse am Wahlprozess und sogar zu einem Boykott der diesjährigen Wahlen durch die Opposition geführt hat.
Ein weiteres Beispiel für ein Land, in dem die Qualität der Wahlen seit einem Jahrzehnt im freien Fall ist, ist Bangladesch. Ein Machtkampf zwischen den beiden größten Parteien, der Awami-Liga und der Bangladesch Nationalist Party (BNP), versetzte das Land in eine Sackgasse aus regelmäßigen gesellschaftlichen Aufständen, die durch dysfunktionale Gewaltenteilung verursacht wurden.
Die Wahlen am 7. Januar brachten Sheikh Hasina von der Awami-Liga vor dem Hintergrund von Bedenken über elektronische Wahlmaschinen, Wahlintegrität und damit der Unparteilichkeit der Wahlkommission für eine vierte aufeinanderfolgende Amtszeit als Premierministerin zurück. Was folgte, waren gewalttätige Proteste, die zur Verhaftung von Zehntausenden von Aktivist:innen und schließlich zum Boykott der Wahl durch die oppositionelle BNP führten.
Eine wichtige Beobachtung hierbei ist, dass auch in autokratischen Staaten wie Bangladesch oder Aserbaidschan Wahlen abgehalten werden. Allerdings bedeutet die Durchführung einer Wahl nicht, dass die Wähler:innen tatsächlich eine Wahl haben.
Ausblick: das Superwahljahr 2024
Das Superwahl 2024 lässt bisher zwei Schlussfolgerungen zu. Zum einen hat die demokratische Teilnahme in Ländern wie Indien, Panama und Südafrika einen Triumph erlebt. Zum anderen sollte die Besorgnis wachsen, da in vielen Ländern die Rechte der Wähler und der Opposition durch Scheinwahlen eingeschränkt werden.
Der BTI-Wahlkalender fasst nicht nur zusammen, was passiert ist, sondern bietet auch einen Ausblick über das, was in diesem Jahr noch bevorsteht. Viele der 4,2 Milliarden Menschen haben noch bedeutende Entscheidungen für ihre Gesellschaft zu treffen.
Ein Blick auf den afrikanischen Kontinent zeigt, dass in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 in neun Ländern nationale Wahlen geplant und bestätigt sind. Unter ihnen sind die kürzlich stattgefundene Wahl in Ruanda (15. Juli) und die im Herbst stattfindende Wahl in Botswana (31. Oktober). Während Ruandas Regierung unter Paul Kagame und der Ruandischen Patriotischen Front (RFP) wenig bis gar keine Toleranz gegenüber inländischen Kritikern und Dissidenten zeigt, verspricht ihr ausländisches Auftreten Effizienz und Fortschritt. Der BTI 2024 argumentiert jedoch, dass Ruandas fragile politische Grundlage und autokratische Herrschaft zu zunehmender Vetternwirtschaft, sozialer Instabilität und dem Verschwinden des öffentlichen Raums führen.
Der Widerstand gegen Veränderungen ist nicht nur in autokratischen Ländern zu beobachten. Auch in demokratischen Ländern gibt es die Versuchung, das Wahlsystem zugunsten der Amtsinhaber zu beeinflussen und so die Fairness der Wahlen zu gefährden. Botswanas demokratische Grundlage wird durch eine erodierende Bürokratie und ein System, das das Parlament schwächt – wodurch es nicht in der Lage ist, die Exekutive zur Rechenschaft zu ziehen – beeinträchtigt. Dies sind erhebliche Hindernisse für Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Das positive Image, das Botswana international genießt, ist jedoch nicht nur Hörensagen. Unter Präsident Mokgweetsi Masisi, dessen Botswana Democratic Party (BDP) seit der Unabhängigkeit Botswanas im Jahr 1965 die Mehrheit der Sitze hält, wurde das Engagement für freie Wahlen und Medienfreiheit gestärkt. Es bleibt abzuwarten, ob die Wahlen 2024 die politische Landschaft Botswanas in eine vielfältige politische Umgebung verwandeln oder ob die BDP ihre Machtposition beibehält.
Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Bezug auf Medienfreiheit und Meinungsfreiheit werden die georgischen Wähler am 26. Oktober zu einer bedeutenden Wahl an die Urnen gehen. Während im Frühsommer Proteste die Straßen von Tiflis füllten, festigte die Partei Georgischer Traum (GD) ihre Machtposition, indem sie ein Gesetz zu „ausländischer Einflussnahme“ durchsetzte, das russische Gesetzgebung widerspiegelt und die unabhängige Zivilgesellschaft und Medien zu unterdrücken droht.
Die Regierung scheint ihre Macht zu konsolidieren, indem sie sich von ihren Bürgern distanziert und die politische Polarisierung verstärkt. Angesichts der zunehmenden nationalistischen Tendenzen und der Nähe zu Russland, die die Regierung zeigt, unterstützen die Protestierenden eine pro-europäische Agenda und sind besorgt über die Verschmelzung von Exekutive und Judikative in ihrem Land. Die Wähler werden über den zukünftigen Kurs des Landes entscheiden, während viele von ihnen gleichzeitig die Integrität der Wahlen in Frage stellen.
Fazit
In einer multilateralen Welt haben nationale Wahlen globale Auswirkungen. Die Beispiele in diesem Artikel zeigen, dass neben den allgegenwärtigen US-Wahlen, auf die bis November viel globales Augenmerk gerichtet ist, auch andere Staaten und Regionen Wahlen abhalten, die das fragile globale Konstrukt der Regierungsführung beeinflussen. Betrachtet man, wie sich das Superwahljahr entwickelt hat und was noch bevorsteht, wird deutlich, dass politische Partizipation äußerst wertvoll ist.
Freie und faire Wahlen durchzuführen, ist jedoch nur ein Teil des demokratischen Prozesses. In demokratischen Abläufen treiben verschiedene politische, wirtschaftliche und Indikatoren bezogen auf Governance die Transformation voran. Der BTI-Wahlkalender dient nicht nur als Übersicht darüber, auf welche Staaten und Regionen in diesem Jahr geachtet werden sollte, sondern fungiert auch als Einstiegspunkt in den BTI 2024, welcher qualitative Daten darüber bietet, wo Demokratie hoch geschätzt wird und wo sie unter Druck gerät.