Visionär oder Träumer? Kolumbiens Präsident auf dem Prüfstand
Kolumbiens erstes progressives Staatsoberhaupt, Gustavo Petro, verfolgt das ehrgeizige Ziel, sein Land in eine „Weltmacht des Lebens“ und zur „Speisekammer des Planeten“ zu verwandeln. Nach mehr als zwei Jahren im Amt kann er dabei zwar bereits einige Erfolge vorweisen. Gleichzeitig nimmt der politische und gesellschaftliche Gegenwind jedoch tagtäglich zu – und viele seiner Vorhaben erscheinen zunehmend utopisch.
Seit dem Amtsantritt von Gustavo Petro im August 2022 ist Kolumbien Schauplatz eines politischen Experiments, das das Land auf tiefgreifende Weise verändern soll. Als erster linker Präsident in der Geschichte des konservativ geprägten Kolumbiens versprach Petro einem der Länder mit der ungleichsten Einkommensverteilung der Welt einen „Wandel für das Leben.“
Mit Gesundheits-, Renten-, Arbeits- und Bildungsreformen will der 64-Jährige seither die soziale Schere schließen. Darüber hinaus plant er, ein nachhaltiges Wirtschaftssystem zu etablieren, das auf Umweltschutz statt auf ungebremstes Wachstum setzt. Im Zentrum seines Programms steht der „umfassende Frieden“, der Dialoge mit allen bewaffneten Gruppen und eine tiefgreifende Agrarreform umfasst, um das kriegsgebeutelte Land nach mehr als fünf Jahrzehnten Konflikt zu befrieden und zu einer offeneren Gesellschaft umzugestalten.
Ein blitzsauberer Start
Besonders zu Beginn seiner Amtszeit hatte Petro dabei einige Erfolge vorzuweisen. Das spiegelt sich auch in den jüngsten Beobachtungen des Bertelsmann Transformation Index (BTI) wider: bei Indikatoren wie dem „Versammlungsrecht“ und der „Gewaltenteilung“ gewann Kolumbien dort unter Petro zuletzt an Boden. Gleichzeitig haben sich verschiedene Marktindikatoren, „Geldstabilität“ und das „Bankensystem“ auf einem hohen Niveau stabilisiert.
Die Verabschiedung einer längst überfälligen Steuerreform, die ärmere Schichten begünstigt und Reiche sowie die Ölindustrie stärker besteuert, zählt zu den wichtigsten Entwicklungen unter Petro. Diese Reform war ein zentrales Anliegen der Proteste 2021, als Millionen Menschen nach sozialer Gerechtigkeit schrien. Ein ähnlich bedeutender Schritt ist auch die umfassende Friedensstrategie „Paz Total“, die die (Wieder-)aufnahme von Friedensverhandlungen mit illegalen bewaffneten Gruppen umfasst, die Kolumbien seit Jahrzehnten destabilisieren. Zudem wird der seit 2016 weitgehend ignorierte Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla aktiv angegangen.
Gleichzeitig hat die von Petro eingeleitete Agrarreform bereits zur Übergabe erster Ländereien geführt und wird als Errungenschaft der ersten linken Regierung des Landes gewertet. Ohnehin hat Petros Einsatz für historisch vernachlässigte Gruppen besonders in ländlichen Gegenden Anklang gefunden. Er setzt sich für eine neue Drogenpolitik ein, die die verarmte Landbevölkerung nicht unnötig kriminalisiert, sondern den Kaffee- und Kakaoanbau fördert. Mit der Wahl von Francia Márquez, einer schwarzen Vizeministerin, wird dieses Minoritätendenken unterstrichen.
Kolumbien trat unter Petro auch dem regionalen Klimaabkommen von Escazú bei, das Umweltschutz und Menschenrechte verbinden soll. Unter seiner Führung konnte die Entwaldungsrate 2023 um beinahe 38 Prozent gesenkt werden – ein beachtlicher Erfolg. Zudem wurden zukunftsweisende Gesetze erlassen, darunter das Verbot von Einwegplastik und die Besteuerung zuckerhaltiger Produkte, um die öffentliche Gesundheit zu schützen.
Kolumbien als geteilte Nation
Diese ambitionierten Ziele stehen der Realität einer gespaltenen Gesellschaft gegenüber. Petros Unterstützer, die Petristas, bestehen überwiegend aus historisch benachteiligten Gruppen wie der bäuerlichen, indigenen und afro-kolumbianischen Bevölkerung sowie aus städtischen Progressiven und der Jugend. Im Gegensatz dazu erheben die alten Eliten – darunter einflussreiche Unternehmen, Großgrundbesitzer und das politische Establishment – zunehmend ihre Stimme gegen den Präsidenten, weil sie ihre wirtschaftlichen Interessen gefährdet sehen.
Petro spricht von „Desinformations-Kampagnen“ der großen Medienkonzerne und einem „Putsch“ gegen ihn. Doch die negative Berichterstattung scheint Wirkung zu zeigen: Aktuelle Umfragen attestieren Petro nur noch Zustimmungswerte von 30 bis 38 Prozent, während es zu Beginn seiner Amtszeit noch über 50 Prozent waren.
Der Groll gegen Petros Politik geht so weit, dass mittlerweile gleich mehrere Attentatspläne gegen ihn aufgedeckt wurden, was zuletzt auch der US-Botschafter Francisco Palmieri bestätigte. In Kolumbien ist der Landbesitz stark in den Händen einer kleinen Elite konzentriert: Ein Prozent der Bevölkerung besitzt 80 Prozent des Bodens, was die soziale Ungleichheit weiter verschärft. Ein Großteil des Landes, das ursprünglich für kleine landwirtschaftliche Betriebe vorgesehen war, wurde illegal durch Großgrundbesitzer und multinationale Unternehmen teilweise mit Hilfe von paramilitärischen Gruppen erworben – so etwa auch im Falle des weltbekannten Bananenkonzerns Chiquita. Dieses Vorgehen hat die soziale Ungleichheit weiter verschärft.
Alte Strukturen und ein wackeliger Friedensprozess
Rechte Oppositionelle im Kongress blockieren zudem Petros Arbeits- und Gesundheitsreform – und einer seiner größten Erfolge, seine Steuerreform, wurde mittlerweile vom Verfassungsgericht einkassiert. Diese Ereignisse werden von Petros Anhängern als Zeichen gedeutet, dass die traditionellen Eliten zunehmend Druck auf die politischen Institutionen des Landes ausüben. Sie argumentieren, dass die konservative Mehrheit im Kongress und eine von der alten Garde dominierte Justiz den Wandel blockieren, um den Status quo zu bewahren
Während Petro weitreichende Reformen anstrebt, sieht sich seine Regierung einer konservativ geprägten Justiz und einem mehrheitlich oppositionellen Kongress gegenüber, die viele seiner Vorhaben blockieren. Kritiker vermuten, dass diese Institutionen, teils beeinflusst von traditionellen Eliten, den Reformprozess absichtlich bremsen, um den Einfluss und die Privilegien der alten Machtstrukturen zu sichern.
Petro sieht sich massiver institutioneller Kontrolle und juristischer Eingriffe ausgesetzt, die er als „Staatsstreich auf kolumbianische Art“ bezeichnet. Er kritisiert insbesondere, dass Richter ohne Zuständigkeit versuchen, seine verfassungsmäßige Immunität als Präsident anzufechten – ein Schritt, der ihm zufolge Verfassung und demokratische Regeln verletzt. Petro sieht hierin das Werk konservativer Eliten, die seine linke Regierung schwächen wollen. Der Präsident und seine Anhängerschaft gehen davon aus, dass sich eine Allianz aus traditionellen Medien und den etablierten Machthabern gegen ihn gebildet hat, die gezielt darauf abzielt, die Errungenschaften der Regierung von Präsident Gustavo Petro zu verbergen und ihn politisch zu isolieren. Diese strategischen Koalitionen nutzen ihre Macht, um die öffentliche Wahrnehmung zu steuern und den Präsidenten in seiner Fähigkeit, Veränderungen voranzutreiben, zu behindern.
Während Petros und dessen Unterstützerkreis von einer rechten Verschwörung sprechen, sind politische Analysten zurückhaltender. Sie argumentieren, dass die Gewaltenteilung in Kolumbien grundsätzlich intakt sei. Doch Petros Fall verdeutlicht auch ein strukturelles Problem: parteiische Bindungen in Justiz und Verwaltung beeinträchtigen oft die Neutralität dieser Institutionen und verschärfen politische Grabenkämpfe. Die härtere Überwachung Petros lässt vermuten, dass die traditionellen Machtstrukturen seine Reformen als Bedrohung sehen und sich ihm mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenstellen.
Obwohl er als charismatischer Reformer auftritt, ist es Petro vor diesem Hintergrund bislang nicht gelungen, das Land hinter sich zu vereinen. Konservative Kreise werfen ihm vor, ideologisch verbohrt zu sein und notwendige ökonomische Kompromisse zu verweigern. Der bestehende Interessenkonflikt zwischen Petros Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit und den Interessen des Privatsektors zeigt sich insbesondere bei der Rentenreform, die die Dominanz privater Rentenfonds brechen soll.
Auch Petros Energiepolitik spaltet derweil die Geister. Der Präsident predigt eine Abkehr von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien innerhalb der nächsten 17 Jahre und fordert das staatliche Ölunternehmen Ecopetrol offen dazu auf, diesen Übergangsprozess voranzutreiben. Diese Pläne stoßen jedoch auf massiven Widerstand, da Erdöl das wichtigste Exportprodukt des Landes ist und über 57 Prozent der Exporte aus dem Bergbau- und Energiesektor stammen.
Petros Wahlkampfversprechen, den Konflikt mit bewaffneten Gruppen zu beenden, scheint derzeit unerfüllbar. Zwar gab es Fortschritte in den Verhandlungen mit der ELN-Guerilla, doch nach einem erneuten Angriff auf eine Militärbasis wurden die Verhandlungen ausgesetzt, derzeit versucht die Regierung wieder mit der größten noch aktiven Guerilla zusammenzukommen und die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Aufgrund der Rückschritte, werden kritische Stimmen Petro nun vor, dass die bewaffneten Gruppen seine Gutmütigkeit ausgenutzt haben. Die Verhandlungen mit Splitter-Gruppen der ehemaligen FARC und dem sogenannten Golf-Clan und städtischen Banden, die Teil von Petros politischem Traum dem „allumfassenden Frieden“ sind, werden weiterhin geführt.
Eine bittersüße Amtszeit
Die Bilanz seiner Präsidentschaft ist dementsprechend ein Paradoxon: Viele Reformen wurden angestoßen, aber sie stehen oft im Widerspruch zur harten Realität und den Interessen übermächtiger Akteure.
In Kolumbien ist die Gewaltenteilung formal gewährleistet, doch der Einfluss der Eliten auf die Justiz und Legislative schwächt diese Unabhängigkeit. Durch Günstlingswirtschaft und Korruption in diesen Institutionen wird die Reformagenda von Präsident Petro effektiv blockiert. Trotz der demokratischen Prinzipien, die die Gewaltenteilung gewährleisten sollen, kämpfen die alten Eliten – sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor – gegen Petros Pläne, was die politische Landschaft zunehmend polarisiert. So wird das Rechtssystem weniger als eine neutrale Instanz, sondern als ein Instrument der Machtinteressen genutzt. Die enorme Einflussnahme derjenigen, die stets die Macht im Land innehatten – Politiker und vor allem die mächtigsten Unternehmen – sowie deren Einfluss auf die Medien und somit auf die Bevölkerung scheint nahezu unüberwindbar.
Ob Petro Kolumbien dennoch auf einen neuen Kurs bringen kann, hängt davon ab, wie er die Kluft zwischen Visionen und pragmatischer Politik überbrücken kann. Die entscheidende Frage für die verbleibenden zwei Jahre seiner Amtszeit ist, wie Petro seine Vision für Kolumbien verwirklichen wird.
Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, auf kleinere, pragmatischere Projekte zu setzen und Konsenspolitik zu betreiben. Bisher hält Petro jedoch an seinen ehrgeizigen Reformplänen fest. Eine realistischere Option wäre es, sich auf Bereiche zu konzentrieren, in denen er Erfolge verzeichnen kann, insbesondere auf die Außen- und Umweltpolitik. Petro hat in seiner bisherigen Amtszeit durch sein Bekenntnis zum Multilateralismus und gezielte Initiativen beachtliche Erfolge erzielt. Besonders hervorzuheben ist die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Venezuela, die eine Stabilisierung der Grenzregion ermöglichte. Zudem hat Petro Kolumbiens Einfluss in globalen Klimafragen gestärkt und sich auf internationalen Foren als engagierter Umweltvertreter positioniert und den Globalen Norden selbstbewusst zum Handeln gegen den Klimawandel und im Namen des Artenschutzes aufgefordert. Auch sein Fokus auf den afrikanischen Kontinent, der zuvor weitgehend unbeachtet blieb, hat zu verstärkten wirtschaftlichen und diplomatischer Kooperationen geführt und Kolumbien wieder auf die internationale Bildfläche katapultiert. Diese außenpolitischen Erfolge bieten Petro die Chance, bis 2026 einen bleibenden politischen Fußabdruck zu hinterlassen.