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Protests against 2024 South Korean martial law. Photo by Hashflu via Wikimedia Commons, licensed under CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en)

Südkoreas Demokratie im Stresstest: Der autoritäre Rückfall des Konservatismus

Das südkoreanische Verfassungsgericht hat die Absetzung des 12. Präsidenten Yoon Suk-yeol nun einstimmig bestätigt. Damit ist der fast vier Monate andauernde Stresstest für die südkoreanische Demokratie abgeschlossen. Doch ist damit auch die Demokratiekrise überwunden?

Das Drama begann am 3. Dezember 2024 mit einer nächtlichen Absprache Yoons, in der er das Kriegsrecht verhängte, politische Aktivitäten und Versammlungen verbot und die Pressefreiheit außer Kraft setzte. Truppen wurden entsandt, um das Parlamentsgebäude zu umstellen und politische Aktivitäten zu unterbinden. In dem Dekret warf Yoon der oppositionellen Demokratischen Partei Koreas (DPK) „staatsfeindliche Aktivitäten“ vor. Die Opposition wolle die Regierung durch den Boykott von politischen Maßnahmen und die reihenweise Absetzung von Ministern paralysieren. Der Ausnahmezustand sei notwendig, um die freiheitlich demokratische Ordnung des Landes vor „pronordkoreanischen staatsfeindlichen Kräften“ zu schützen.

Dieser verfassungswidrige Akt scheiterte bereits nach sechs Stunden am entschlossenen Widerstand: Trotz der Abriegelung des Parlamentsgebäudes versammelten sich innerhalb von zwei Stunden nach Verhängung des Kriegsrechts 190 Abgeordnete und stimmten einstimmig für dessen Aufhebung. Tausende von Bürgern fanden sich ebenfalls vor dem Parlament zusammen und bildeten mit ihrem Protest einen Schutzwall für die Abgeordneten. Hier hat sich einmal mehr die Lebendigkeit und Kraft der demokratischen Zivilgesellschaft Südkoreas gezeigt, die sich in den Jahrzehnten des Kampfes gegen die Diktatur gebildet hat.

Schon bald nach der Aufhebung des Kriegsrechts tauchten zahlreiche Beweise und Zeugenaussagen auf, die darauf hindeuteten, dass Yoon durch den massiven Einsatz militärischer Gewalt eine Verfassungskrise herbeiführen wollte. Kurz davor war Yoon, der wegen seines autoritären Regierungsstils und verschiedener Vorwürfe gegen seine Ehefrau schon lange in der Kritik steht, von der Opposition wegen mutmaßlicher Beziehungen zu einem dubiösen politischen Makler, der im Vorfeld der letzten Parlamentswahlen Einfluss auf den Nominierungsprozess von Yoons People Power Party (PPP) genommen und Umfragen manipuliert haben soll, in die Enge getrieben worden.

In seiner Verzweiflung gab er sich einer von rechtsextremen Medien und Youtube-Kanälen verbreiteten Verschwörungstheorie hin, nämlich dass die letzte Parlamentswahl, bei der seine Gegner einen überwältigenden Sieg errangen, von einer Komplizenschaft zwischen der Oppositionspartei, ihr nahestehenden Beamten und der chinesischen Regierung systematisch manipuliert worden seien.

Justizsystem im Fokus

Am 26. Januar 2025 wurde der Präsident offiziell des Umsturzversuches angeklagt. Die Entscheidung zur Absetzung begründete das Verfassungsgericht damit, dass keine nationale Krise vorgelegen habe und der Präsident mit der Verhängung des Kriegsrechts die demokratische Verfassung Südkoreas verletzt sowie die koreanische Gesellschaft in Unruhe versetzt habe.

Bei der Aufarbeitung der Krise durfte man sein Vertrauen durchaus auf ein weitgehend unabhängiges Justizsystem setzen, hat sich doch das Verfassungsgericht seit seiner Gründung 1989 als wirksame Hüterin der Verfassung etabliert, wie der Bertelsmann Transformation Index (BTI) herausstellt. Zudem stützen Institutionen wie die Anti-Korruptionsbehörde CIO, die bei der Verhaftung Yoons eine entscheidende Rolle spielte, die Vertrauenswürdigkeit des politischen Systems. So erreichte Südkorea beim BTI-Indikator „Prosectuion of office abuse“ den Wert von 8 von 10.

Ein großer Teil der koreanischen Gesellschaft befindet sich derzeit in feierlicher Stimmung. Man feiert die erneut unter Beweis gestellte Resilienz der koreanischen Demokratie. Die Neuwahl des Präsidenten ist für den 3. Juni angesetzt. Dennoch ist es zu früh, die demokratische Krise für beendet zu erklären.

Anders als bei der Amtsenthebung von Yoons Vor-Vorgängerin Park Geun-hye im Jahr 2017, bei der die koreanische Gesellschaft praktisch einhellig gegen die wegen Korruption und Amtsmissbrauchs angeklagten Präsidentin votierte, hat sich die koreanische Gesellschaft während des Gerichtsverfahrens gespalten gezeigt.

Die PPP boykottierte die erste Abstimmung über die Amtsenthebung und verhielt sich auch bei den folgenden Abstimmungen zurückhaltend oder ablehnend. Unterdessen mobilisierten Yoons Anhänger Massenproteste in Seoul und anderen Großstädten, bei denen Zehntausende die Verhängung des Kriegsrechts verteidigten und das Verfassungsgericht aufforderten, die Amtsenthebung abzulehnen. Am 19. Januar, dem Tag, an dem der Haftbefehl gegen Yoon erlassen wurde, stürmten sogar Hunderte von Anhängern das Gerichtsgebäude. Seine Anhänger setzten zudem ihre persönlichen Angriffe auf die Verfassungsrichter fort. Zahlreiche einflussreiche PPP-Abgeordnete haben ihre Sympathie für die Demonstranten bekundet. Jeden Samstag sah die Innenstadt von Seoul sowohl Demonstrationen für als auch gegen die Amtsenthebung. Am Tag der Entscheidung des Verfassungsgerichts gab die Polizei eine Notfallwarnung heraus, um einen Zusammenstoß zwischen den Gegnern und Befürwortern des Amtsenthebungsverfahrens zu verhindern.

Eine baldige Überwindung der durch den Gerichtsprozess sichtbar gewordenen Polarisierung in der koreanischen Gesellschaft erscheint unwahrscheinlich. Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass die gesellschaftliche Spaltung die Politik Südkoreas auch nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts dauerhaft belasten wird. Denn hinter den radikalisierten Demonstrationen der Anhänger Yoons steckt mehr als rechtsextreme Hetze. In einigen Umfragen wuchs zeitweise die Popularität des inhaftierten Präsidenten und die Regierungspartei lag vor der Opposition, auch wenn die konservativen Stimmen überrepräsentiert worden sein dürften. Yoons Anhänger fordern sogar seine Rückkehr ins Präsidentenamt – ähnlich wie bei Trump –, obwohl das gesetzlich nicht möglich ist.

Historisch verankerte Spaltung der Gesellschaft

Die hier zum Ausdruck kommende Zerrissenheit der koreanischen Gesellschaft hat tiefe Wurzeln. Vier Jahrzehnte lang, vom Ende des Koreakriegs bis zur Demokratisierung in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, stützten sich die autoritären Regimes zu ihrer Legitimation neben dem schnellen, staatlich gelenkten Wirtschaftswachstum, das sich auf die großen Familienkonzerne konzentrierte, vor allem auf einen militanten Anti-Kommunismus, der auf einer klaren Freund-Feind Unterscheidung basierte. Dieser Ideologie ist vor allem die ältere Generation (der über Siebzigjährigen) immer noch stark verhaftet, deren Mentalität durch die Bedrohung durch Armut und Nordkorea nach dem Koreakrieg stark geprägt wurde. Unversöhnlich stehen sie Strömungen in der Gesellschaft gegenüber, die mehr Wohlstand und Umverteilung fordern.

Die Feindseligkeit wird die ohnehin schwierige Aufgabe der gesellschaftlichen Integration Südkoreas weiter erschweren. In nur rund sechs Jahrzehnten hat sich das Land von einem der ärmsten Länder der Welt zu einer hochentwickelten Industrie- und Wirtschaftsnation entwickelt. Die damit einhergehende rasante gesellschaftliche Transformation hat Südkorea wie andere hochentwickelte Länder vor neue Aufgaben gestellt, wie z.B. den Interessenausgleich zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen. Die weitgehende ideologische Radikalisierung, die mit der Verhängung des Kriegsrechts am Abend des 3. Dezember tatsächlich in eine bewaffnete Kriegserklärung zu eskalieren drohte, verhindert eine produktive Diskussion und die notwendige Gesellschaftsreform.

Regressiver Konservatismus und Polarisierung

Erheblich erschwerend kommt die Unnachgiebigkeit konservativer Politiker hinzu. Ein beträchtlicher Teil der konservativen Kräfte in Südkorea hat sich auch nach dem Übergang des Landes zur Demokratie infolge des Aufstands von 1987 nicht von seinen autoritären Bindungen lösen können. Sie haben wiederholt die Sehnsucht nach einer starken Hand geschürt und bei Bedarf McCarthy-artige Hetzkampagnen gestartet. Man hat nach der Amtsenthebung von Park Geun-hye eine Neuorientierung der Konservativen erwartet. Stattdessen haben sie jedoch eine regressive Tendenz gezeigt, indem sie sich an die sogenannte Asphalt-Basis, den rechtsextremen Flügel, klammerten, um ihre Unterstützerschaft zu festigen. Das Verhalten konservativer Politiker, die Yoons Kriegsrecht verteidigen, ist deshalb so beunruhigend, weil es mittel- bis langfristig die ideologische Schwäche konservativer Politik noch verstärken wird.

Die Regression der konservativen Partei wird die Reform des politischen Systems enorm behindern. Das aus der Zeit der autoritären Herrschaft stammende Zweiparteiensystem stößt bei den Bürgern zunehmend auf Unzufriedenheit und Kritik: Sie wünschen sich eine Alternative zum bisherigen Entweder-Oder-System und der ständigen Konfrontation. Die Polarisierung führt bei Wahlen dazu, dass nicht mehr zwischen Parteien, sondern Ideologien entschieden wird. Kräfte, die eigentlich differenzierte Positionen beziehen, geraten unter den Druck, sich „um die demokratische Partei zu scharen“, um die Demokratie vor dem Autoritarismus zu schützen. In einer so polarisierten politischen Landschaft gibt es wenig Raum für Dialog und gegenseitiges Verständnis.

Trübe Aussichten für die notwendige Erneuerung des Konservatismus

Entscheidend für die Entwicklung der koreanischen Demokratie und ihre Stabilität wird sein, ob die Konservativen in Südkorea ihren rückwärtsgerichteten Marsch stoppen und sich einer politischen Vision zuzuwenden, die den Interessen aller Gesellschaftsschichten innerhalb des demokratischen Systems Raum lässt. Alle, die sich nach einer Veränderung der koreanischen Politik sehnen, müssen sich daher vor allem eine Neuorientierung der Konservativen wünschen.

Leider gibt es derzeit keine Anzeichen dafür, dass die Konservativen einen solchen positiven Wandel herbeiführen werden. Bei der letzten Anhörung des Amtsenthebungsverfahrens am 26. Februar rechtfertigte der abgesetzte Präsident die Verhängung des Kriegsrechts erneut als Akt zur Rettung des Landes vor den „Kommunisten“ – damit meint er gleichermaßen die Opposition wie Nordkorea und China. Eine ernsthafte Entschuldigung für seinen Verfassungs- und Rechtsbruch unterließ er. Draußen vor dem Verfassungsgericht versammelten sich währenddessen seine Anhänger in Massen und forderten die Einstellung des Verfahrens. Auf den Straßen hängte die PPP polarisierende Plakate mit der Aufschrift „Nein zu Lee Jae-myung“ (dem Vorsitzenden der DPK) auf.

Die eindeutige Entscheidung des südkoreanischen Verfassungsgerichts zur Amtsenthebung von Yoon scheint bislang kaum Auswirkungen auf den autoritären Mainstream der PPP gehabt zu haben. Die parteiinternen Anhänger Yoons beschimpfen jene Abgeordneten, die für das Amtsenthebungsverfahren gestimmt haben, als Verräter und fordern sogar deren Parteiaustritt. Statt einen neuen Weg für die konservative Politik zu suchen, rufen sie dazu auf, eine gemeinsame Front gegen Lee Jae-myung zu bilden. Ziel sei es, die Kontrolle über die Regierung zu bewahren.

In jüngsten Umfragen zeigte sich, dass die Anhänger der PPP am stärksten zu jenen rechtsextremen Politikern tendieren, die die Verhängung des Kriegsrechts durch Yoon konsequent verteidigt haben. Yoons Unterstützer planen bereits eine neue Kampagne unter dem Motto „Reset Korea, Yoon Again“, um einen Nachfolgekandidaten in Stellung zu bringen, der seine politische Linie fortführt. Angesichts der aktuellen Dynamik bezweifeln viele Beobachter, dass sich die angeschlagene Partei vollständig von diesen extremen Kräften lösen wird. Yoon Suk-yeol selbst, der die größte Verantwortung für die derzeitige Krise trägt, zeigt keinerlei Einsicht. Eine ernst gemeinte Entschuldigung gegenüber der Bevölkerung bleibt aus. Stattdessen sendet er aufmunternde Botschaften an seine radikalsten Unterstützer und kündigt an, weiterhin an ihrer Seite kämpfen zu wollen. Die südkoreanische Demokratie bleibt damit weiter unter Druck – der politische Sturm ist längst nicht vorüber.

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