Kambodscha und Thailand finden keine nachhaltige Lösung – und die Nachbarn schauen zu
Thailand und Kambodscha haben ihren militärisch ausgetragenen Grenzkonflikt formal beigelegt. Dass Kambodscha zuvor wenig außenpolitische Unterstützung erhielt, hat viel damit zu tun, wie das Land regiert wird.
Kambodscha und Thailand haben am 26. Oktober im Rahmen des 47. ASEAN-Gipfels in Kuala Lumpur einen „Friedensvertrag“ geschlossen, in dem sie sich offiziell dazu verpflichteten, die Lage entlang ihrer gemeinsamen Grenze zu deeskalieren, nachdem es im Juli zu einer mehrtägigen militärischen Auseinandersetzung mit mindestens 42 Toten und mehr als 300.000 Vertriebenen kam. Doch die fundamentalen Streitpunkte sind damit nicht beigelegt worden, wie die unterschiedliche Auslegung der gemeinsamen Erklärung im Rahmen des Joint Border Committee (JBC) Meeting in Chanthaburi (Thailand), die dem Deal in Malaysia voranging, bereits zeigt. Daher ist der jahrzehntealte Disput über den exakten Grenzverlauf nur sediert und nicht aus der Welt geschaffen worden. Ganz im Gegenteil deutet einiges darauf hin, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er wieder ausbricht – selbst wenn die letzte Ruhephase immerhin 14 Jahre dauerte.
Kambodscha allein in der Anarchie der internationalen Beziehungen
Der Ursprung des Konflikts liegt im französisch-siamesische Abkommen von 1907, das allerdings nicht präzise genug den Grenzverlauf zwischen den heutigen Staaten Thailand und Kambodscha definierte und in den Jahrzehnten nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft immer wieder zu lokal begrenzten Konflikten führte.Nun könnte man diesen Grenzkonflikt als alleiniges Problem zweier Nachbarstaaten, die sich traditionell argwöhnisch gegenüberstehen, abtun und mit der Hoffnung verbinden, dass er die Region nicht destabilisiert, wenn es irgendwann tatsächlicher zu einem umfassenderen Waffengang käme.
Oder man betrachtet ihn aus der Perspektive einer weitgehenden außenpolitischen Apathie zahlreicher internationaler Akteure, die unwillens oder unfähig sind, konstruktiv zu einer nachhaltigen Befriedung beizutragen. Vor allem zeigt der thailändisch-kambodschanische Konflikt einmal mehr das Fehlen einer regionalen Ordnungsmacht in Südostasien, wodurch in den internationalen Beziehungen nach wie vor ein Machtvakuum herrscht, das vom faktischen Recht des Stärkeren fast nach Belieben ausgefüllt werden kann. Mit Kambodscha bekommt das ein Staat zu spüren, der mit seinen Nachbarn in wirtschaftlicher wie militärischer Hinsicht kaum mithalten kann – und keine nennenswerte diplomatische Unterstützung in diesem ungleichen Konflikt erhielt.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, wie wenig eigens dafür geschaffene internationale Institutionen gewillt sind, dieser Anarchie Einhalt zu gebieten. 2011, beim letzten Clash an der kambodschanisch-thailändischen Grenze, rief Kambodscha noch den UN-Sicherheitsrat an, was angesichts der thailändischen Aggression damals überaus verständlich war. Doch dort verweigerte man mehr oder weniger die Arbeit und delegierte die Aufgabe an die Association of Southeast Asian Nations (ASEAN), die aufgrund des thailändischen Vetos wiederum nicht zur notwendigen Einstimmigkeit fand, um eine Lösung zu entwickeln. Und der Konflikt dieses Jahres hat erneut deutlich gemacht, dass die ASEAN als regionale Macht nicht in der Lage war, den seit Monaten drohenden bewaffneten Konflikt zu verhindern.
Fast alle schauten weg
In dieser Hinsicht wäre es denkbar gewesen, dass andere Staaten mit diplomatischen Initiativen in diese Lücke hätten vorstoßen können. Abgesehen von banalen Appellen kam es jedoch nicht dazu. Dass sich Vietnam zurückhielt, mag angesichts der Ereignisse 2024 wenig überraschen, als Kambodscha durch einseitiges Handeln seine bilateralen Beziehungen zum östlichen Nachbarn strapazierte. Noch mehr als Vietnam hätte Indonesien, mit Abstand größter Staat in Südostasien und Teil der Staatengruppe G20, eine verantwortliche Rolle spielen können. Doch offenbar galt Indonesiens ganzer außenpolitischer Fokus in den letzten Wochen und Monaten dem fernen Konflikt um Gaza. Selbst die Volksrepublik China, mit intensiver staatlicher Kooperation und enormer unternehmerischer Präsenz der wichtigste internationale Partner Kambodschas, trat auf dem diplomatischen Parkett nicht als seine Schutzmacht auf. Anders als die unmittelbaren regionalen Nachbarn übte China allerdings hinter den Kulissen Druck auf beide Länder aus, um den Konflikt beizulegen.
Auch viele andere Staaten, die seit über 30 Jahren Milliarden in den Wiederaufbau Kambodschas – das nach jahrzehntelanger Gewalt durch Krieg, Bürgerkrieg und Genozid als „failed state“ galt – investierten, blieben weitgehend passiv. Vor allem Indien, Japan und die Europäische Union samt ihren Mitgliedstaaten hielten sich auffällig zurück, obwohl sie das außenpolitische Potential für eine wirksame diplomatische Initiative, etwa durch Pendeldiplomatie, durchaus gehabt hätten. Gerade die EU ist so sehr an internationalen Beziehungen nach völkerrechtlichen Prinzipien interessiert, dass sie in viel konsequenterer Weise zu deren Einhaltung hätte beitragen können. Tatsächlich war es in Südostasien eben doch kein in der Weltpolitik so typischer Konflikt zweier Staaten, in die beide allein durch innenpolitische Motive und harsche Rhetorik hineingerutscht waren, sondern nichts weniger als ein lokal begrenzter Angriff eines größeren, militärisch überlegenen Landes auf die territoriale Integrität eines kleineren, schwächeren Nachbarstaats.
Der Hauptunterschied zu 2011 bestand darin, dass Kambodscha sich sowohl militärisch als auch diplomatisch aggressiv verteidigte. Insbesondere die Veröffentlichung eines Telefongesprächs zwischen dem kambodschanischen Senatspräsidenten Hun Sen und der thailändischen Premierministerin Paetongtarn Shinawatra trug erheblich zur Eskalation des Konflikts bei (und kostete die thailändische Politikerin letztendlich ihren Posten). Und dass die Weltöffentlichkeit gleichzeitig durch die Konflikte in Nahost und in der Ukraine komplett gebunden gewesen sei, widerlegt ausgerechnet einer, der an beiden Brandherden eine zentrale Rolle spielt und trotzdem seine ganze Autorität für eine Beilegung des Konflikts in Südostasien in die Waagschale legte: Donald J. Trump nutzte sein diplomatisches Gewicht und ließ es sich auch nicht nehmen, bei der Unterzeichnung des Abkommens am 26. Oktober persönlich dabei gewesen zu sein. Es steht jedenfalls außer Frage, dass die USA einen maßgeblichen Anteil daran haben, dass der Grenzkonflikt nicht weiter eskalierte.
Unter Hun Sen wurde die Wirtschaftskriminalität industrialisiert
Doch es bleibt offen, warum Kambodscha in einer für das Königreich so existentiellen Bedrohung international so wenig Beistand erfuhr. Ein naheliegender Aspekt liegt ausgerechnet in der Innenpolitik des Landes, die seit vier Jahrzehnten von ein- und demselben Mann dominiert wird: Hun Sen, formell Präsident des Senats und Chef der regierenden Kambodschanischen Volkspartei (CPP). Kambodschas ehemaliger Premierminister (1985-2023) hat zwar mittlerweile die Regierungsgeschäfte seinem ältesten Sohn Hun Manet übergeben, trifft die wesentlichen politischen Entscheidungen in Kambodscha aber weiterhin selbst. Dass sich Hun Sen solange an der Macht hält, hängt eng mit seiner Fähigkeit zusammen, seine loyalen Anhänger in Staat, Militär und Partei zu alimentieren und selbst zu einer der vermögendsten Personen Asiens aufgestiegen zu sein Dem zugrunde lagen schon immer legale, halblegale und illegale Geschäftsmodelle, wobei der Anteil mafiöser Praktiken in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist. Das betrifft in erster Linie Cybercrime-Verbrechen: Zusammen mit Myanmar gilt Kambodscha mittlerweile als das globale Epizentrum für grenzüberschreitenden Betrug.
Das Ausmaß dieser industrialisierten Wirtschaftskriminalität liegt nach Schätzungen des amerikanischen Experten Jacob Sims zwischen 12,5 und 19 Milliarden Dollar pro Jahr, gleichbedeutend mit bis zu 60% des Bruttoinlandsprodukts. Doch nicht nur die um Geld Betrogenen, sondern auch die unmittelbaren Scammer gehören zu den Opfern. Rund 150.000 Menschen sollen unter falschen Versprechungen auf einfache digitale Jobs nach Kambodscha gelockt worden sein und derzeit gegen ihren Willen in isolierten Häusern festgehalten werden. Berichte über Körperverletzungen einschließlich Organhandel, Folter und Mord in diesen Zwangsarbeiterlagern kursieren seit Jahren. In manchen Regionen, vor allem in den Städten Sihanoukville, Bavet und Poipet, riskieren Ausländer vor allem aus anderen Staaten Asiens, auf offener Straße gekidnappt zu werden. Als ein wesentlicher Akteur der Cybercrime-Aktivitäten wurde das Konglomerat Prince Group Holdings identifiziert, dessen CEO Chen Zhi mit doppelter kambodschanischer und chinesischer Staatsbürgerschaft nachweislich enge Beziehungen eben zu Hun Sen unterhält.
Internationale Journalisten berichteten aus der thailändischen Perspektive
Tatsächlich wären Verbrechen dieses Ausmaß ohne Duldung oder Involvierung der Staatsgewalt dauerhaft wohl nicht möglich. Es wäre für Kambodscha auch nicht ungewöhnlich: Seit Jahren verzeichnet der Bertelsmann Transformation Index Kambodscha nicht nur als eine „harte Autokratie“ (im Übrigen wie Thailand seit dem Militärputsch 2014), sondern auch als eines der korruptesten Länder der Welt. Doch längst handelt es sich nicht mehr um ein rein inländisches Problem, wie Reisewarnungen aus diesem Grund insbesondere asiatischer Staaten zeigen. Und mit der Beschlagnahmung von Bitcoin im Wert von mehr als 14 Milliarden Dollar im Besitz der Prince Group durch US-Behörden Mitte Oktober dürfte auch Hun Sen klar geworden sein, dass die Welt keine Lust mehr auf Kambodschas Exportschlager Nummer eins hat.
Während endemische Korruption und organisiertes Verbrechen Kambodschas Reputation in den außenpolitischen Beziehungen massiv beschädigen, schadet Hun Sens Regierungsstil seinem Land auch in anderer Hinsicht im Konflikt mit Thailand. Besonders auffällig während der heißen Phase des militärischen Konflikts war die Perspektive der internationalen Berichterstattung, die überwiegend von Thailand aus erfolgte und zunächst dazu neigte, die thailändische Darstellung zu übernehmen. Der kambodschanische Journalist Jay Sophalkalyan kritisierte Kambodscha sogar dafür, den „Informationskrieg“ mit Thailand verloren zu haben. Der Hauptgrund dafür ist, dass unabhängige Journalisten es vorziehen, von Thailand aus zu arbeiten, da das Regime in Phnom Penh seit Jahren die Meinungs- und Pressefreiheit im eigenen Land stetig einschränkt. Die beiden kambodschanischen Journalisten Pheap Phara und Phon Sopheap bekamen die Auswirkungen dieser harten Linie zuletzt zu spüren, als sie am 31. Juli wegen ihrer Berichterstattung über den Grenzkonflikt verhaftet und im September wegen Hochverrats angeklagt wurden.
Warum Kambodscha auch militärisch nicht mithalten kann
Das hat dann wohl auch die Thais überzeugt. Dass sie den Kambodschanern militärisch überlegen sind, hat nicht nur mit den finanziellen Möglichkeiten einer deutlich größeren Volkswirtschaft zu tun, sondern auch mit dem Umstand, dass Hun Sen offenbar ganz bewusst davon absieht, seine Truppen in der Grenzregion angemessen auszurüsten. Denn kein militärischer Verband darf besser ausgestattet sein als die Brigade 70, die ihm (zusammen mit seiner Leibwächtermiliz) persönlich unterstellt ist und seit 30 Jahren seinen Machtanspruch durchsetzt. Noch weniger konkurrenzfähig sind die Luftstreitkräfte: Anders als Thailand, das mit Schweden just inmitten des Grenzkonflikts die Lieferung von Mehrzweckkampfflugzeugen vom Typ JAS 39 Gripen vertraglich vereinbarte, verzichtet Kambodscha auf solch wirksame Waffen. Denn ein einziger Jetpilot stellt für Hun Sen schon eine unkalkulierbare Gefahr dar.
Es ist nicht auszuschließen, dass die Regierung in Bangkok zu einem ähnlichen strategischen Lagebild gekommen ist und dabei erkannt hat, dass die außenpolitischen Risiken eines offensiv geführten Grenzkonflikts mit Kambodscha überschaubar sind. Und solange Hun Sen an den wesentlichen Merkmalen seiner korrupten, anti-freiheitlichen Innenpolitik festhält, wird die Zahl internationaler Sympathisanten Kambodschas nicht steigen. Dann wird das Land auch den nächsten Grenzkonflikt mit Thailand alleine bestehen müssen. Und weil eine nachhaltige Lösung auch dieses Mal nicht gefunden wurde, scheint es wohl nur eine Frage der Zeit zu sein, bis er wieder aufflammt.
Zuerst veröffentlicht auf The Diplomat