Neue Mauern I: Militarisierte Grenzen
Was ist aus der Hoffnung auf Freiheit in einer grenzenlosen Welt geworden, dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer? Anstatt zu verschwinden, entstehen an Europas Rändern immer mehr Grenzbefestigungen. — Teil 1 unserer Serie „Neue Mauern“.
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden Grenzen als eine Last der Vergangenheit betrachtet, die bald überwunden sein würde. Die Freizügigkeit innerhalb der EU diente dem ehemaligen kommunistischen Block als Modell für die Zukunft. Auch aus globaler Sicht sollten Grenzen so weit wie möglich aufgehoben werden, um die Verheißungen der Globalisierung und der liberalen Demokratie zu erfüllen.
Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 änderte sich jedoch diese Sichtweise. Grenzen verwandelten sich von statischen Linien zu virtuellen Netzwerken. Die internationale Mobilität sollte mit einer neuen Art von elektronischen Kontrollen verbunden werden, an denen sowohl staatliche Akteure als auch private Unternehmen beteiligt sind. Alle transnationalen Ströme von Waren, Kapital und Personen werden seither einer möglichst umfassenden Überwachung unterworfen, die lückenlos vom Startpunkt bis zum Endziel der jeweiligen Güter oder Reisenden reichen soll.
Der Fall der Berliner Mauer weckte die Hoffnung auf eine neue, friedliche globale Gesellschaft ohne Grenzen. Viele Entwicklungen haben diesen Traum seither befördert, von der europäischen Integration, dem digitalen Wissensaustausch bis hin zum Aufstieg von Schwellenländern in die Riege der führenden Volkswirtschaften. 30 Jahre später gibt es nicht nur mehr konventionelle Grenzbefestigungen als je zuvor, sondern auch neue Abschottungen durch digitale Zensur und Steuerung sowie protektionistische Handelspolitiken. Indem sie die freie Verbreitung von Waren, Ideen und Sehnsüchten über Ländergrenzen hinweg verhindern, tragen „neue Grenzen“ zu ungleichem Zugang zu öffentlichen Gütern, regionaler Desintegration, Desinformation und Missachtung der Menschenrechte bei. Wir sollten sie besser kennenlernen – in unserer Mini-Serie „Neue Mauern“.
Doch anstatt die liberalen Demokratien durch neue Sicherheitstechnologien zu stabilisieren, schürte der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus ein Gefühl der Paranoia und führte zu einer Erosion politischer Freiheiten. Wirtschaftliche Schocks, ein Anwachsen der sozialen Ungleichheit und Anti-Globalisierungsbewegungen verliehen dem Nationalismus in westlichen Staaten neuen Schwung, während China und Russland immer lauter die etablierte Weltordnung in Frage stellten.
Globale Verbreitung von Grenzsicherungsanlagen
Die Strukturkrise der liberalen Demokratie und die wachsende Kluft zwischen kosmopolitischen Eliten und „normalen Bürgern“, die überwiegend in kleineren Städten oder auf dem Land leben, werden heutzutage an Grenzen verdeutlicht. Physisch sichtbare Grenzen haben eine übermäßige Bedeutung erlangt. Weltweit stieg die Zahl harter Grenzsicherungsanlagen von 15 gegen Ende des Kalten Krieges auf über 70 zu Beginn der 2010er-Jahre an und umfasste mehr als 30.000 Kilometer.
Seither ist die Zahl militärisch befestigter Grenzen markant weitergewachsen. Triebkräfte sind gewalttätige Konflikte –etwa zwischen Russland und der Ukraine oder in den Gebieten zwischen Pakistan und Afghanistan – sowie mutmaßlich bedrohliche Migrationsbewegungen, beispielsweise zwischen Bangladesch und Indien, Saudi-Arabien und Irak, Israel und Ägypten oder zwischen der Türkei, Syrien und dem Iran. Derweil hält Donald Trump sein Versprechen aufrecht, eine „schöne“ Mauer in Richtung Mexiko zu bauen, und polarisiert damit die US-Politik und die Beziehungen zu Mittelamerika. Auch in anderen Ländern spalten neue Grenzanlagen die öffentliche Meinung: Entweder werden sie als letzte Verteidigungslinie gegen die Globalisierung, die unkontrollierte Einwanderung und den moralischen Verfall eingefordert oder sie werden als Ausdruck eines sinnlosen Populismus mit unmenschlichen Folgen für gefährdete Flüchtlinge verdammt.
Die Debatte über die Bedeutung von Grenzen stellt sich in Europa schon lange. In den letzten drei Jahrzehnten hat der Prozess der europäischen Integration zahlreiche Grenzen aufgehoben, verwischt und neu definiert. Das Ende des berüchtigten Eisernen Vorhangs und die Erweiterung des Schengen-Raums führten zu einem dramatischen Anstieg der persönlichen Mobilität in Mittel- und Osteuropa. Die europäische Integration bedeutete aber zugleich, wieder Grenzkontrollen mit einigen Nachbarstaaten einzuführen und auszubauen, wie zwischen Polen und der Ukraine oder zwischen verschiedenen Mitgliedsstaaten des ehemaligen Jugoslawiens. Die (Wieder-)Erlangung der Freizügigkeit ist einer der wichtigsten Gründe für Länder aus Südosteuropa, ihre Anträge für einen EU-Beitritt aufrechtzuerhalten. Demgegenüber hat die anhaltende Abwanderung hochqualifizierter Bürger nach Westeuropa – laut Regionalanalyse des Bertelsmann Transformation Index (BTI) fast 8 Prozent der Gesamtbevölkerung – zu tiefen Ressentiments, zunehmender Ungleichheit und einem Wachstum des Nationalismus in verschiedenen mittel- und südosteuropäischen Ländern geführt.
Illiberales Abdriften in Mittel- und Südosteuropa
Seit 2015 hat die Migrationskrise diese Spannungen verschärft. Mit Blick auf den grenzlosen Raum innerhalb der EU sahen sich viele europäischen Staaten dazu gedrängt, ihre Außengrenzen mit harten Maßnahmen abzusichern. Dies führte zur Errichtung neuer Grenzzäune in Südosteuropa, etwa zwischen Ungarn und Serbien, Slowenien und Kroatien oder zwischen Griechenland und Nordmazedonien. Zudem wird regelmäßig über das aggressive Vorgehen von Grenzpolizisten in dieser Region berichtet. Die damit verbundene Verletzungen der Menschenrechte von Migranten und die Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit werden von anderen europäischen Mitgliedsstaaten bisher stillschweigend akzeptiert. Gleichzeitig nutzten illiberale populistische Bewegungen Migranten als bequeme Sündenböcke, um von anhaltenden sozialen Problemen und der anhaltenden Auswanderung junger Menschen abzulenken.
Infolgedessen ist der historische Transformationsprozess zur liberalen Demokratie in Mittel- und Südosteuropa substanziell bedroht. Dies zeigt sich in der Kriminalisierung von Nichtregierungsorganisationen, der Einschränkung der Meinungsfreiheit, koordinierten Medienkampagnen gegen Migranten und andere „ausländische Eliten“, der Unterdrückung der politischen Opposition und der staatlichen Förderung autoritärer Grenzmilizen. Der BTI und die dazugehörigen Länderberichte geben einen systematischen wie alarmierenden Überblick über das Erstarken illiberaler Bewegungen, die in Ungarn und Polen eine besondere Dynamik haben, sich aber leider nicht auf diese Länder beschränken. Besonders besorgniserregend sind dabei mögliche politische Allianzen und Freundschaften die weit über Mittel- und Südosteuropa hinausreichen. Das betrifft „alte“ EU-Mitgliedsstaaten wie Italien ebenso wie Verbindungen zu nationalistischen Bewegungen in den USA oder Russland.
Grenzen sind Indikatoren für den Zustand der liberalen Demokratie
Das befürchtete grenzüberschreitende Bündnis zwischen Russland, verschiedenen mittel- und südosteuropäischen Ländern sowie Italien ist bisher nicht verwirklicht worden. Ebenso bleibt abzuwarten, ob internationale Organisationen wie die Europäische Union und der Europarat nicht doch in der Lage sein werden, wirksame Gegenmaßnahmen zum Erhalt der Rechtsstaatlichkeit zu ergreifen. Die letzten Europawahlen gaben jedenfalls Anlass zur Hoffnung, dass erneuerte liberale Kräfte den Vormarsch der Populisten stoppen könnten.
Die sich ständig verändernde Rolle von Grenzen dient dabei als Indikator für den Zustand der liberalen Demokratie. Es ist weder hilfreich, Grenzen im Namen der nationalen Identität oder der Souveränität zu überhöhen, noch sollten Grenzen als reine Last der Vergangenheit behandelt und im Namen der Globalisierung weggefegt werden. Die politische Debatte über die Bedeutung von Außengrenzen sollte vielmehr entdramatisiert werden und sich einem internen Aspekt zuwenden: den Säulen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des Vertrauens, die für eine offene Gesellschaft unerlässlich sind.
Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt