Neue Mauern II: Die Große Firewall Chinas
Chinas so genannte „Große Firewall“ blockiert den Internetzugang der Bürger zueinander und nach außen. Doch letzten Endes könnte die virtuelle Blockade die Ziele der kommunistischen Partei selbst untergraben. – Teil 2 unserer Serie „Neue Mauern“.
Im Laufe der Zeit haben Imperien und Nationalstaaten Mauern errichtet, um ihre Bevölkerungen zu schützen und ihre Interaktion mit der Außenwelt einzuschränken. In den letzten Jahrzehnten wurden solche Hindernisse nicht nur aus Steinen errichtet, sondern auch in der digitalen Welt. Ein Beispiel dafür sind die Chinesen, die lange Zeit von der Großen Mauer abgeschirmt waren, und heute von der „Großen Firewall“ umgeben sind, wie Internetnutzer die digitale Mauer getauft haben, die innerhalb der Volksrepublik China den Zugang zum World Wide Web einschränkt.
Der Fall der Berliner Mauer weckte die Hoffnung auf eine neue, friedliche globale Gesellschaft ohne Grenzen. Viele Entwicklungen haben diesen Traum seither befördert, von der europäischen Integration, dem digitalen Wissensaustausch bis hin zum Aufstieg von Schwellenländern in die Riege der führenden Volkswirtschaften. 30 Jahre später gibt es nicht nur mehr konventionelle Grenzbefestigungen als je zuvor, sondern auch neue Abschottungen durch digitale Zensur und Steuerung sowie protektionistische Handelspolitiken. Indem sie die freie Verbreitung von Waren, Ideen und Sehnsüchten über Ländergrenzen hinweg verhindern, tragen „neue Grenzen“ zu ungleichem Zugang zu öffentlichen Gütern, regionaler Desintegration, Desinformation und Missachtung der Menschenrechte bei. Wir sollten sie besser kennenlernen – in unserer Mini-Serie „Neue Mauern“.
Ähnlich einer physischen Mauer stellt auch die Große Firewall eine Barriere dar, die den Informationsfluss und ‑austausch behindert. Google, Facebook, Twitter, Dropbox und ausländische Webseiten, insbesondere von Nachrichtendiensten wie BBC oder Reuters, sind für einen chinesischen Internetnutzer nicht zugänglich. Stattdessen hat die chinesische Staatspartei die Entwicklung chinesischer Dienste unterstützt, vor allem von Baidu, einem chinesischen Pendant zu Google, und Wechat, einer Social-Media-Plattform. Im Gegensatz zu ausländischen Anbietern arbeiten diese chinesischen Dienste uneingeschränkt mit den chinesischen Behörden zusammen.
Zensur ist allgegenwärtig
Die chinesischen Behörden beschränken mit der virtuellen Mauer nicht nur den Informationsfluss in das Land, sondern auch den Austausch seiner innerhalb der Mauer lebenden Menschen. Zensur ist allgegenwärtig. Die Propaganda-Abteilung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) sendet Memos an Rundfunk- und Fernsehanstalten sowie Presseagenturen, in denen sie darüber informiert, wie über bestimmte Vorfälle berichtet werden soll. Auch wenn sich offiziell durch die Privatisierung chinesischer Medien der Einfluss auf die Verbreitung von Informationen verringert hat, praktizieren die Medien doch Selbstzensur und antizipieren, was zensiert werden könnte, um nicht von Behörden bestraft oder stillgelegt zu werden. Private Webseiten, Blog-Artikel und Social-Media-Accounts von Bürgern werden ebenfalls zensiert, wenn sie von der Staatspartei als zu kritisch eingestuft werden oder das Potenzial haben, zu viele öffentliche Debatten anzuregen.
Die Große chinesische Firewall erschwert den Zugang zu Informationen und die freie Meinungsäußerung erheblich. So bewerten die Analysten des Bertelsmann Transformation Index (BTI) die Meinungsfreiheit der chinesischen Bürger 2018 mit nur 2 von 10 möglichen Punkten. Nur Ländern wie Nordkorea oder Oman schneiden in diesem Ranking noch schlechter ab und erreichen beim Indikator Meinungsfreiheit den schlechtesten Wert 1. Seit 2016 wurde die Zensur in China weiter verschärft und die Anzahl der gesperrten in- und ausländischen Webseiten hat sich erhöht.
Verbreitet wird die offizielle Linie
Zensur und Internetzensur begrenzen den Informationsfluss in und über China, prägen und lenken die öffentliche Meinung und beeinflussen so die Wahrnehmung von Informationen, die der offiziellen Linie widersprechen. Informationen werden nicht nur zensiert, sondern auch zugeschnitten, um eine spezifische Sichtweise auf die chinesische Geschichte, die KPCh und das Ausland zu propagieren und nationalistische Gefühle zu fördern.
In Schulbüchern lernen chinesische Kinder beispielsweise, patriotisch und kritisch gegenüber westlichen Mächten zu sein, deren Ankunft im 19. Jahrhundert zu einer „100-jährigen Demütigung“ der „großen chinesischen Zivilisation“ geführt habe. Dieser Sichtweise und dem Selbstlob der KPCh begegnen chinesische Bürger alltäglich auf öffentlichen Werbeflächen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und am Arbeitsplatz. Auf subtilere Weise wird die öffentliche Meinung auch von staatlichen Social-Media-Accounts oder der sogenannten 50-Cent-Armee geformt – Blogger im Staatsdienst, die im Internet die Meinung beeinflussen, indem sie positive Nachrichten und Kommentare über die Regierung veröffentlichen. Die Große Firewall erschafft somit einen Raum, in dem Informationen nur begrenzt zur Verfügung stehen und gezielt dazu eingesetzt werden, die öffentliche Meinung zu lenken und damit der möglichen Wirkung kritischer Informationen zuvorzukommen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die chinesischen Bürger blind der offiziellen Propaganda glauben und ihr folgen. Bei vielen erregen die offiziellen Medien und Propagandaplakate Misstrauen. Ausländer und Chinesen nutzen virtuelle private Netzwerke (VPNs), um die Große Firewall zu umgehen und auf unzensierte Informationen zuzugreifen. Andere umgehen die offizielle Zensur, indem sie Codewörter und Metaphern verwenden, wenn sie die Regierung und die mangelnde Redefreiheit kritisieren wollen. Wenn die wahre Bedeutung solcher Wortspiele entdeckt wird, werden neue erfunden.
Scharfes Vorgehen gegen Opposition
Trotz dieser Bemühungen können die Große Firewall und die offizielle Zensur nur umgangen, nicht jedoch direkt bekämpft werden. Spezielle Insider-Kenntnisse sind beispielsweise erforderlich, um auf VPNs zuzugreifen oder die codierte Sprache zu verstehen. Gegen VPNs und kritische Blogger wird verstärkt vorgegangen und die ohnehin eingeschränkte Meinungsfreiheit und der Zugang zu unzensierten Informationen damit weiter erschwert. Darüber hinaus wird die Staatspartei immer gewiefter darin, die chinesische öffentliche Meinung auf subtilere Weise zu beeinflussen. Möglicherweise gelingt es ihr so besser, die Wahrnehmung und Interpretation von Informationen zu formen.
Die Internetzensur stellt nicht nur eine Barriere zwischen der Außenwelt und China dar, sondern erschafft gleichzeitig einen Raum, in dem die Staatspartei die öffentliche Meinung flexibel beeinflussen kann. Unter Präsident Xi sind die Internetkontrollen verschärft worden und der Raum für freie Meinungsäußerung und kritisches Denken wird in Zukunft weiter schrumpfen. Doch trotz ihres Potenzials, chinesische Bürger zu indoktrinieren, bleibt abzuwarten, ob diese Strategie den beiden Hauptziele der Staatspartei dient: wirtschaftliche Entwicklung und soziale Stabilität. Mit kritischen Äußerungen lässt sich Dampf ablassen, der sonst möglicherweise zu offenen Protesten führen könnte. Kritisches Denken und freier Zugang zu Informationen sind darüber hinaus erforderlich, um innovativ zu sein – eine Schlüsselkompetenz, die die Staatspartei für die wirtschaftliche Entwicklung benötigt. Das bedeutet, die KPCh muss zwischen Zulassen und Zensieren von Informationen das richtige Gleichgewicht finden und das richtige Maß an Redefreiheit, um ihre Hauptziele für die Zukunft zu erreichen.
Aus dem Englischen übersetzt von Karola Klatt.