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Ethiopian Prime Minister Abiy Ahmed Ali. Photo by www.kremlin.ru via commons.wikimedia.org, CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Nach den verschobenen Wahlen: Äthiopiens Reformkurs auf der Kippe

Nach der coronabedingten Verschiebung der Parlamentswahl in Äthiopien und einem Attentat in der Hauptstadt des Landes nehmen die Zweifel am zögerlichen Reformkurs des friedenspreisgekrönten Präsidenten Abiy Ahmed zu. Wie steht es um die fragile Demokratisierung?

Mit großer Erleichterung hießen sowohl die Äthiopier als auch Beobachter der jahrzehntelangen politischen Wirren Äthiopiens im April 2018 Ministerpräsident Abiy Ahmed in seinem Amt willkommen. Schnell bekam er den Ruf des Reformers, der das seit Jahrzehnten bestehende Machtmonopol der Partei Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker, die das Land unter Ausübung eines wachsenden Autoritarismus zu einer afrikanischen Wirtschaftsmacht geformt hatte, zerschlagen würde. Die Hoffnungen, die in den jungen „Reformpräsidenten“ nach seiner Wahl gesteckt wurden, waren groß und lösten weltweit Lobeshymnen aus. 2019 wurde Abiy Ahmed für seine Aussöhnungspolitik mit Eritrea, dem Erzrivalen seit mehr als zwanzig Jahren, sogar mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Erfolg hatte er unter anderem mit erfreulichen Fortschritten auf dem Weg zur Reformierung der Judikative. Viele andere Reformen, insbesondere innerhalb des Sicherheitssektors, ließen jedoch auf sich warten. Der Länderbericht des Bertelsmann Transformation Index (BTI) 2020 über Äthiopien kommt zu dem Schluss: „Die neue politische Führung hat ihre Haltung gegenüber einer Beteiligung der Zivilgesellschaft geändert, aber bis jetzt ist keine Institutionalisierung von Dialogen zwischen Staat und Zivilgesellschaft sichtbar.“ Und Amnesty International veröffentlichte kürzlich einen niederschmetternden Bericht, in dem die äthiopische Armee beschuldigt wird, bei ihrem Einsatz gegen Rebellengruppen im Westen und Süden der Region Oromia schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben.

Explosiv wurde die politische Situation in Äthiopien mit dem Ausbruch der globalen COVID-19-Pandemie, die für eine Verschiebung der mit Spannung erwarteten Parlamentswahlen am 31. März 2020 sorgte. Die Latte der Erwartungen lag für dieser Wahl hoch: Sie galt als Meilenstein für den Übergang Äthiopiens zu einem demokratischen Staat. Mehrere zuvor nicht zugelassene politische Parteien sahen darin ihr erstes Vertrauensvotum in Wahlkreisen, zu denen ihnen seit fast drei Jahrzehnten der Zugang verweigert wurde.

Wahlverschiebung führt zu heftigen Debatten

Doch angesichts der zunehmenden Bedrohung durch das Coronavirus hat der äthiopische Nationale Wahlausschuss die nun für den 29. August geplanten allgemeinen Wahlen ein weiteres Mal auf unbestimmte Zeit verschoben. Durch diese, wenngleich gerechtfertigte, Entscheidung stand der Elefant im Raum: Äthiopiens Verfassung sieht vor, dass alle fünf Jahre Parlamentswahlen stattfinden müssen, was bedeutet, dass jede Regierung, die ihr Wahlmandat überschreitet, automatisch illegal wird.

Die Verschiebung hat eine heftige Debatte über die Verfassung und die Frage, wie Regierungspartei und Opposition einen Weg aus der Sackgasse finden können, in Gang gesetzt. Viele Äthiopier, darunter einige der bekanntesten Verfassungsrechtler des Landes, haben die Regierungspartei gebeten, in diesem entscheidenden Moment auf der Basis der Verfassung einen nationalen Dialog mit allen Oppositionsparteien und anderen Interessengruppen zu führen. Stattdessen brachte Abiys Regierungspartei die Angelegenheit vor das Parlament, das vollständig von ihren Mitgliedern kontrolliert wird, und suchte in einem Berg von Optionen, einschließlich der Auflösung des Parlaments, nach einem verfassungskonformen Ausweg.

Der Stillstand in Wahlzeiten hätte kollektive Bemühungen um einen Dialog und Verhandlungen zwischen Regierungspartei und Opposition erfordert, doch das Parlament verwies die Entscheidung an das Verfassungsgericht und reduzierte damit den Dialog auf das gerade noch gesetzmäßige. Wie aus dem Lehrbuch der Diktatur mutet der nächste Schritt an: Das Verfassungsgericht erklärte die Ausdehnung der derzeitigen Legislaturperiode der Bundesregierung auf unbestimmte Zeit, oder bis COVID-19 nicht länger als eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit angesehen wird, für verfassungskonform. Noch gefährlicher war vermutlich, dass das Verfassungsgericht unter der Obersten Richterin Meaza Ashenafi seine von der Verfassung gewährten Befugnisse überschritt und auch für die Regionalstaaten anordnete, die Legislaturperioden auszudehnen, obwohl diese föderal eigenständig sind.

Als erste gab die Region Tigray, die ohnehin schon mit der Zentralregierung auf Kriegsfuß steht, bekannt, die Entscheidung des Gerichts nicht anerkennen zu wollen. In einem beispiellosen Schritt kündigte sie einseitig Wahlen zum Regionalparlament an, bevor die Legislaturperiode beendet sein würde. In der Zwischenzeit verstärkten prominente Oppositionsführer anderer politischer Parteien ihre Kritik und beschuldigten Abiy, die Justiz zu missbrauchen, um seine Amtszeit unrechtmäßig zu verlängern. Die politische Stimmung verschlechterte sich rapide, was Abiy dazu veranlasste, eine strenge Warnung auszusprechen und sogar die Möglichkeit in den Raum zu stellen, Gewalt anzuwenden, um die Verfassung und das Land zu schützen.

Politisches Attentat löst Gewalt aus

Die Spannungen weiter angeheizt hat der Mord an dem im ganzen Land beliebten, aber vom Volk der Oromo verehrten, Musiker und Aktivist Hachalu Hundessa, der im Juni getötet wurde. Es braucht keine Fantasie, um darin ein politisches Attentat zu sehen, das Gewaltausbrüche zur Folge hatte und offenbarte, wie die äthiopische Politik unter dem Reformer Abiy ihre Möglichkeiten, eine stabile politische Ordnung zu werden, längst erschöpft hat. In der Nacht, in der Hachalu in der Hauptstadt erschossen wurde, ging die Region Oromia in Flammen auf: Den Protesten gegen die Ermordung folgten Angriffe gegen Minderheiten, die in der Region leben, und eine Vielzahl anderer Zivilisten, darunter auch Oromos. Nach Angaben der Regierung wurden mehr als 160 Personen getötet, sowohl von Sicherheitskräften als auch von gewalttätigen Gruppen, die Minderheiten angriffen. Städte wie Shashemene, eines der Geschäftszentren in der Region, wurden in Asche gelegt.

Gleichzeitig ist die Regierung massiv gegen prominente Oppositionelle wie Jawar Mohammed vorgegangen, einen Mann, der Abiy half, seine Macht zu festigen, später jedoch zu einem heftiger Kritiker wurde. Mehr als 7.000 Menschen wurden im Zusammenhang mit dem Mord und der darauffolgenden Gewalt festgenommen. Vertreter fast aller großen Oppositionsparteien, Journalisten und Aktivisten wurden inhaftiert und beschuldigt, zur Gewalt angestiftet zu haben. Mindestens vier regierungskritische Medienhäuser wurden geschlossen. Das Internet wurde an 23 aufeinanderfolgenden Tagen abgeschaltet. Während dieser Zeit bemächtigte sich die Generalstaatsanwaltschaft der staatlichen Medien, um ihre Version des Attentats zu verbreiten. Sie beschuldigt die Oromo-Befreiungsarmee, eine Gruppe, mit der die Regierungstruppen Krieg führen, und die Tigray Volksbefreiungsfront die Ermordung des Künstlers Hachalu begangen zu haben.

Was kommt als nächstes? Wie kann Abiy das Land, wenn das überhaupt noch möglich ist, zu einer stabilen politischen Ordnung führen, ohne einen konstruktiven Dialog über einen Weg aus der Sackgasse zu führen? Wohin führt die schwierige Beziehung zwischen dem Bundesstaat Tigray und der Bundesregierung? Wie stellt sich der Ministerpräsident die Stabilisierung des am stärksten betroffenen und sich in heller Aufregung befindenden Staates Oromia vor, nachdem fast alle politischen Führer und Mitglieder der Opposition, die eine massive Anhängerschaft in der Region haben, inhaftiert wurden?

Abiys Regierung scheint es darauf anzulegen, durch haltlose Propaganda, den geballten Einsatz staatlicher Medien und die volle Kraft der Strafverfolgung die öffentliche Meinung beeinflussen zu wollen. Die städtischen Äthiopier und ihre ausländischen Unterstützer sind in eine Art Lähmung verfallen. Sie stellen keine Fragen mehr und erwarten keine Antworten, wie es mit Äthiopien weitergehen soll. Aus dem Nichts und unter einem Ministerpräsidenten, der als Reformer gilt, wurde Äthiopiens fragiler Übergang in die Demokratie in einen Strudel des Unvorhersehbaren hineingezogen und hinterlässt heute mehr Fragen als Antworten.

Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.

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