Transatlantischer Dialog VII – Zum demokratischen Reformpotential in Libanon und Tunesien
Libanon und Tunesien sind die einzigen arabischen Länder, die der Transformationsindex BTI 2020 als (stark) defekte Demokratien einstuft. Dennoch ist die institutionelle Leistungsfähigkeit eher mangelhaft und die Glaubwürdigkeit der politischen Entscheidungsträger erheblich geschmälert. Die Diskrepanz in beiden Ländern ist eklatant: auf der einen Seite eine aktive und engagierte Zivilgesellschaft, auf der anderen Seite ein zersplittertes Parlament und dysfunktionale Institutionen, die den demokratischen Fortschritt behindern. Die Ergebnisse des Transformationsindex, die von BTI-Regionalkoordinator Jan Völkel vorgestellt wurden, bildeten die Grundlage, um das Reform- und Demokratisierungspotenzial auszuloten.
Mit Experten aus dem Libanon und Tunesien diskutierten wir, wie der institutionelle Stillstand überwunden werden könnte. Maha Yahya vom Carnegie Middle East Center in Beirut schilderte, wie tief die Spaltung nach Identitätsgruppen im gegenwärtigen politischen System verwurzelt ist. Die verschiedenen ethno-religiösen Gruppen hätten den Konflikt im Grunde „von der Straße ins Parlament getragen“, erklärte sie und bezeichnete deren politische Posten als „Kriegsbeute“. Was den politischen Fortschritt im Libanon derzeit lähmt, seien die klientelistischen und nepotistischen Netzwerke, so dass sie zu dem Schluss kommt, dass „das Modell der Machtteilung nicht länger haltbar ist“. Hoffnungsvoll stimmt sie jedoch, dass viele junge Menschen – wie die beeindruckenden Demonstrationen zeigten – diese Art von Stillstand satt haben und zunehmend die sektiererischen Grenzen überschreiten.
Dies sei in Tunesien gegenläufig, erklärte Amine Ghali vom Kawakibi Democracy Transition Center, Tunis. Viele junge Menschen hatten große Hoffnungen in die Demokratie gehabt, wurden aber zunehmend desillusioniert und verloren das Vertrauen in politische Parteien. Er erkannte zwar die Erfolge der tunesischen Demokratisierung an, meinte aber gleichzeitig, dass es „viel schwieriger sei, eine Demokratie zu etablieren, als einen Diktator zu stürzen“. Das Hauptproblem sei, „dass die Demokratie nicht liefert“, wobei er auf das Versagen verwies, die sozioökonomische Kluft zu schließen und generell wirtschaftliche Perspektiven zu bieten.
Ob er noch optimistisch sei, fragte Moderator Anthony Silberfeld von der Bertelsmann Foundation North America den tunesischen Podiumsteilnehmer. Natürlich sei er das, antwortete Amine Ghali, ein Aktivist der Zivilgesellschaft zu sein, mache einen optimistischen Ausblick zwingend erforderlich, und die Stärke der tunesischen Zivilgesellschaft stimme ihn hoffnungsvoll. Maha Yahya stimmte einem solchen optimistischen Ausblick für die nordafrikanische Demokratie zu und hatte noch einen Rat aus eigener Erfahrung: „Lassen Sie die Identitätspolitik nicht in den Mittelpunkt rücken“.