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Tahrir Square in the early morning, November 2012, photo by Frank Schulenburg / Wikimedia Commons – CC BY-SA 3.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

10 Jahre Arabischer Frühling: Wider autokratische Mythen

Vor zehn Jahren wurde der Tahrir-Platz im Zentrum der Metropole Kairo zum symbolischen Ort der Befreiung von Despotismus. Massenkundgebungen und Demonstrationen führten zum Sturz des Präsidenten Muhammad Husni Mubarak, der das Land fast dreißig Jahre mit autokratischer Härte regiert hatte. Viele Menschen glaubten damals an einen umfassenden demokratischen Aufbruch in der arabischen Welt, doch diese Hoffnung ist enttäuscht worden. Angesichts von Bürgerkriegen und Vertreibungen in Jemen, Libyen und Syrien, militantem Islamismus und starker gesellschaftlicher Polarisierung sowie größerer Repression und Menschenrechtsverletzungen in mehr arabischen Ländern als jemals zuvor ist die Aussicht auf gute demokratische Regierungsführung deutlich schlechter geworden.

Angesichts dieser verheerenden Zwischenbilanz ist die Rückfrage verständlich, ob eine zu rasche politische Öffnung nicht letztlich destabilisierend auf Gesellschaften gewirkt hat, die für eine umfassende Demokratisierung noch nicht vorbereitet waren. Eine solche Frage kann zurecht auf die Notwendigkeit inkrementellen Wandels und der Bildung von normativem Konsens vor Öffnung des politischen Wettbewerbs verweisen. Allerdings korrespondiert sie auch mit drei aufeinander aufbauenden Prämissen, die den Herrschaftsdiskurs der repressiven Regime stützen.

  • Es war die politische Öffnung, die den gesellschaftlichen Zentrifugalkräften den Weg bereitet hat, nicht die vorherige Blockierung von Pluralismus und Interessenausgleich.
  • Deshalb muss vor einer politischen Öffnung zunächst gesellschaftliche Rückständigkeit überwunden werden. Dazu zählt die Ausgrenzung des politischen Islam.
  • Diese Modernisierungserfolge sind am ehesten unter autoritären Regimen zu erlangen. Sie garantieren die notwendige Stabilität und effiziente Steuerung.

Nach dieser Lesart ist der Arabische Frühling ein bedauerliches und fehlgeleitetes, aber nunmehr abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. Im Gegensatz dazu betrachtet dieser Beitrag den Arabischen Frühling lediglich als eine besonders markante Manifestation des kontinuierlichen Strebens nach Freiheit, wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit und argumentiert in Hinterfragung der obigen Prämissen, dass dieses Kapitel noch lange nicht fertig geschrieben ist.

Der Arabische Frühling jenseits der Jahreszeiten

Die Demonstrationen auf dem Kairoer Tahrir-Platz und an anderen markanten Orten arabischer Metropolen waren kein plötzlicher, unvermittelter Ausbruch politischer Willensbekundungen in einem eigentlich gefestigten autokratischen Gefüge. Sie haben, wie sich auch aus den Zeitreihen des Transformationsindex BTI ablesen lässt, eine Vorgeschichte gebrochener Reformzusagen.

Der Höhepunkt einer zaghaften politischen Öffnung im Nahen Osten und Nordafrika war bereits Ende der 2000er Jahre und nicht etwa 2012 oder 2013 erreicht. Der regionale Durchschnitt des politischen Transformationsstands betrug im BTI 2010 4,21 Punkte auf einer Zehnerskala. Im Vergleich zu anderen Weltregionen war dies ein extrem niedriger Durchschnittswert, innerhalb der Region aber schien sich eine Stabilisierung im Irak sowie eine politische Liberalisierung auf jeweils unterschiedlichem Niveau in Kuwait, dem Libanon, Sudan, Syrien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) anzudeuten.

Diese begrenzten politischen Liberalisierungen der 2000er Jahre – vom Damaszener Frühling in Syrien und der interkonfessionellen Öffnung in Bahrain über die Aussicht auf freiere Wahlen in Ägypten bis zu den Menschenrechtsanhörungen in Marokko – wurden von den Machthabern nicht gutmütig zugestanden, sondern waren das Produkt langwieriger Stellungskämpfe von Reformern. Eine Vielzahl dieser Reformversprechen sind gegen Ende des vorletzten Jahrzehnts dann gebrochen worden, gipfelnd in den massiv manipulierten ägyptischen Parlamentswahlen vom November 2010. Es ist genau diese Enttäuschung über die Reformunfähigkeit ihrer Regierungen, die Anfang 2011 den Hintergrund für die Massenproteste des Arabischen Frühlings darstellte.

Zum Höhepunkt der liberalisierenden Wirkung des Arabischen Frühlings Anfang 2013 – mit freien Wahlen in Libyen, einem offeneren System in Ägypten und dem Demokratisierungsschub in Tunesien – betrug der regionale politische Transformationsstand nur noch 4,14 Punkte, bedingt durch beginnende Bürgerkriege und stärker einsetzende Repression. Staatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit hatten 2009 bescheidene Höchstwerte erreicht, politische Partizipationsrechte hingegen wiesen nach dem Arabischen Frühling 2013 ihren höchsten Stand auf.

Die heutige Bilanz fällt mit einem transformationspolitischen Tiefstand von 3,60 Punkten ernüchternd aus. Hatten Ende 2010 noch alle arabischen Staaten eine leidliche bis starke staatliche Stabilität aufgewiesen, so zählt der Transformationsindex BTI 2020 aktuell drei zerfallende Staaten – Jemen, Libyen und Syrien – mit rücksichtslos geführten, verlustreichen Bürgerkriegen und der Vertreibung eines signifikanten Teils der Bevölkerungen. Keine andere Weltregion ist so instabil und politisch explosiv. Und hatten Ende der 2000er Jahre viele Menschen in arabischen Ländern zumindest einen gewissen Grad von politischen Beteiligungsrechten, so ist mit dem BTI 2020 ein trauriger Höchststand an harten, hochgradig repressiven Autokratien (13 von 19 im BTI untersuchten Ländern) zu verzeichnen, in denen Partizipation streng begrenzt und Rechtsstaatlichkeit vollständig ausgehebelt ist. Keine andere Weltregion befindet sich, wie BTI-Regionalkoordinator Jan Völkel anmerkte, so „fest im harten Griff der Autokraten“.

Im regionalen Durchschnitt sind ausnahmslos alle 17 vom Transformationsindex untersuchten Kriterien auf einem Tiefpunkt angekommen. Die letzten zehn Jahre an politischer und wirtschaftlicher Transformation in der arabischen Welt verzeichneten teils dramatische Verschlechterungen: mehr Repression, mehr Korruption, mehr soziale Ausgrenzung, mehr Ungleichheit, mehr Inkompetenz und Vetternwirtschaft. Alles von niedrigstem Niveau aus. Der dreifache Ruf nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit verhallte vielerorts nicht nur ungehört, den meisten arabischen Menschen geht es noch einmal deutlich schlechter.

Diese Betrachtung eines längeren Zeitverlaufs regionaler Entwicklungen ist wichtig, weil sie den Protesten und Demonstrationen des Arabischen Frühlings ihre vermeintliche Singularität nimmt. Sie erinnert daran, dass es ein kontinuierliches und beharrliches Drängen von arabischen Zivilgesellschaften gab und gibt, eine politische Öffnung zu erreichen.

Dass viele autoritäre Regierungen es seitdem erneut vermocht haben, mit stark steigender Repression den gesellschaftlichen Protest gegen das Fehlen von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven zu unterdrücken, ändert nichts daran, dass die Unzufriedenheit mit ihrem korrupten Missmanagement groß ist. Die Verschlechterung der Lebensverhältnisse nun ausgerechnet einem vermeintlich vorzeitigen oder zu raschen Versuch einer politischen Öffnung zuzuschreiben und nicht den aktuellen autoritären Machthabern, ist ein besonders dreister Versuch der Geschichtsklitterung.

Der Arabische Frühling jenseits der Dogmen

Demokratische Öffnung und islamistische soziale Bewegungen sind eng miteinander verkoppelt. Zum einen gibt es kaum nennenswerte säkulare demokratische Parteien in der Region, zum anderen sind islamistische Organisationen am engsten mit der Zivilgesellschaft verflochten und haben mit einer Vielzahl von sozialen Projekten, Interessenvertretungen und Basisinitiativen ihre gesellschaftliche Verankerung unter Beweis gestellt.

Allerdings wurde das demokratische islamistische Experiment in den letzten Jahren vielerorts fundamental diskreditiert oder hat sich selbst in Verruf gebracht. Der im Juni 2012 demokratisch gewählte ägyptische Präsident Mohammed Mursi der islamistischen Freiheits- und Gerechtigkeitspartei regierte in seiner einjährigen, durch einen Militärputsch beendeten Amtszeit so, wie viele seiner säkularen Kontrahenten es befürchtet hatten: nicht inklusiv, sondern majoritanistisch. Die unter der Ägide der Muslimbrüder erstellte neue Verfassung war in wesentlichen Teilen illiberal, und als die institutionellen, medialen und politischen Widerstände gegen seine Amtsführung zu groß wurden, versuchte er im Winter 2012 kurzfristig und erfolglos, per Dekret zu regieren. Die Inkompetenz seiner Regierung, die autoritären Tendenzen sowie das chaotische innenpolitische Klima eines auf einmal freien politischen Diskurses wurden häufig als Beleg herangezogen, um vor islamistischer Regierungsbeteiligung zu warnen. Zurecht allerdings wurde schon bald darauf konstatiert, dass Mursi zwar kein Mandela, aber eben auch kein Autokrat war, ganz im Gegensatz zu dem brutalen Militärregime, das Ägypten noch heute in seinem eisernen Griff hält.

Die größte Enttäuschung durch den demokratischen Islamismus fand außerhalb der arabischen Welt statt. Zwar trug die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter Recep Tayyip Erdoğan zunächst maßgeblich zur Demokratisierung der Türkei bei. Sinkende Zustimmungswerte, mangelnde Konsensbildung und schließlich ein fehlgeschlagener Militärputsch veranlassten Erdoğan jedoch, zunehmend majoritanistischer und nachfolgend autokratischer zu regieren und zudem eine gesellschaftliche Re-Islamisierung zu betreiben. Damit bestätigte die AKP den lange gehegten Verdacht, dass sich die türkischen Islamisten nur so lange an pragmatische demokratische Spielregeln hielten, wie es politisch opportun sei, tatsächlich aber dogmatische, religiös getriebene Ambitionen verfolgten und auch gegen Minderheiten durchsetzen würden.

Der ideologische Spagat, einen religiösen Dogmatismus mit einem demokratischen Pragmatismus zu verbinden, kennzeichnet alle islamistischen Parteien. In Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung, gezielter Ausgrenzung oder innerparteilicher Konkurrenz ist zudem die Versuchung gegeben, sich eher dezidiert linientreu als konziliant zu zeigen. Umso beeindruckender ist das politische Verhalten der tunesischen Ennahda-Partei, die im Zuge der Verfassungsgebenden Versammlung als stärkste Partei kompromissbereit agierte und zwei wesentliche, allerdings auch nicht mehrheitsfähige Punkte – die Verankerung der Verfassung in der Scharia und die Strafbarkeit der Verletzung religiöser Gefühle – zurückzog. Ennahda betont, als muslimisch-demokratische Partei nach christdemokratischem Vorbild agieren zu wollen und hat bislang erfolgreich dazu beigetragen, eine weitere Polarisierung des Landes zwischen Säkularen und Islamisten zu verhindern. Diese moderate Haltung ist jedoch unter islamistischen Parteien eher die Ausnahme und macht deutlich, dass eine fundamentale Demokratisierung des politischen Islam in der Region erforderlich ist, um eine gesellschaftliche Polarisierung zu überwinden, die jegliche politische Öffnung gefährdet.

Allerdings braucht dies auch integrative, kooperationsbereite Kooperationspartner. In Tunesien sind dies vor allem die zivilgesellschaftlichen Garanten der Konsensbildung, die Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Menschrechtsgruppen. Der BTI bewertet wesentliche Elemente der tunesischen Konsensbildung wie die Anzahl und Kooperationsbereitschaft von Interessengruppen, die Akzeptanz demokratischer Institutionen sowie die zivilgesellschaftliche Mitwirkung an politischen Entscheidungsprozessen hoch.

Das tunesische Beispiel belegt, dass die undemokratische Ausgrenzung eines substanziellen Teils der Bevölkerung nicht der zwangsläufige Preis ist, den man für einen Aufbruch in die Moderne entrichten muss. Integration oder Exklusion ist eine politische Wahl, Ausgrenzung keine Notwendigkeit. Im Gegensatz dazu sehen die Regime in den VAE, Saudi-Arabien und Ägypten ihren repressiven Kurs gegen Islamisten nicht als ein Governance-Defizit im Sinne unzureichender Konsensbildung und schlechtem Konfliktmanagement an, sondern als einen wichtigen Baustein zur Modernisierung ihrer Gesellschaften.

Der Arabische Frühling jenseits autoritärer Modernitätsversprechen

Seit jeher haben die autoritären Herrscher des Nahen Ostens und Nordafrikas für sich in Anspruch genommen, ihren Gesellschaften den Weg in die Moderne zu weisen. Insbesondere die Präsidialregime taten dies in dezidierter Frontstellung gegen den traditionalistisch geprägten politischen Islam. Vor zehn Jahren jedoch, darauf hat Tarek Masoud kürzlich in einem lesenswerten Artikel im Journal of Democracy hingewiesen, hatten die Demokraten das Monopol auf die großen Gesellschaftsentwürfe, während die Autokraten lediglich Subventionen und Stabilität in Aussicht stellten, um den Status Quo zu bewahren. Heute jedoch stilisieren sich präsidiale, militärische und monarchische Diktatoren mit Hilfe von westlichen Beratern und einer Fülle von Visionspapieren als die Wegbereiter zu „dynamischen Ökonomien, effizienten Verwaltungen und modernen Gesellschaften“ und finden angesichts eines nur langsam verlaufenden gesellschaftlichen Wandels, zahlreicher politischer Rückschläge und vielerorts fehlender wirtschaftlicher Perspektiven zunehmend Anklang. Insbesondere die Regime in den VAE, Saudi-Arabien und Ägypten proklamieren, wirtschaftliche Effizienz mit einer Überwindung traditioneller Verhaltensmuster zu verbinden. Zu diesem Zweck sollen nicht nur staatliche Alimentierungssysteme durch vermehrte wirtschaftliche Eigenbeteiligung der Bürger ersetzt und eine straffere Antikorruptionspolitik installiert werden, sondern auch Bildungsanstrengungen und Maßnahmen zur Gleichberechtigung der Frauen ergriffen werden.

Nach BTI-Daten lassen sich jedoch kaum größere Erfolge im Bereich der Ressourceneffizienz verzeichnen, die sich entlang der Regimetypen einordnen lassen und für Modernität und Fortschritt sprechen würden. Eine Ausnahmestellung nehmen die VAE ein, denen es in den letzten Jahren tatsächlich in beeindruckender Weise gelungen ist, mit einer langfristigen Strategie sowohl eine erfolgreiche ökonomische Diversifizierung zu betreiben wie auch – von hohem Ausgangsniveau aus – einen noch effizienteren Ressourceneinsatz und eine noch bessere Politikkoordination mit einer weiterhin guten Antikorruptionspolitik zu verbinden. Auf deutlich niedrigerem Niveau konnte auch Saudi-Arabien seine Governance bei der Bekämpfung von Korruption und bei der effektiven Nutzung von Ressourcen verbessern. Ansonsten aber büßten zahlreiche Staaten auch in diesem Bereich der Regierungsqualität ein, die geschlossene politische Systeme mit einem notwendigen Modernisierungskurs rechtfertigen, insbesondere Bahrain und Oman, aber auch Ägypten und Jordanien.

In ganz ähnlicher Weise gilt dies für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Die Anzahl von Ländern mit niedrigem sozioökonomischen Niveau, schlechten Sozialstaatssystemen und fehlender Chancengleichheit ist nicht nur aufgrund der katastrophalen Verhältnisse in den Bürgerkriegsländern Jemen, Libyen und Syrien stark angestiegen, sondern auch aufgrund rückläufiger Trends in Bahrain und Oman, während die meisten Länder auf niedrigem Niveau stagnieren bzw. wenige Golfstaaten und vor allem die VAE ihr relativ hohes Niveau halten. Die volkswirtschaftliche Leistungsstärke sank binnen zehn Jahren in den beiden Demokratien Libanon und Tunesien um zwei Punkte, ein deutlicher Einbruch, den aber auch Bahrain (-2) sowie Jordanien und Oman (je -3) aufweisen, und auch Ägypten und Saudi-Arabien (je -1) sind von einer schwachen Wirtschaftsdynamik geprägt. Dies ist nicht mehr den sozialen und ökonomischen Verwerfungen des Arabischen Frühlings anzulasten, sondern der unzureichenden Wirtschafts- und Sozialpolitik in fast allen Ländern außer Katar, Kuwait und den VAE.

Insofern droht diesen Regimen vermutlich weniger die Gefahr einer „Modernisierungsfalle“, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt unter autoritärer Führung so erfolgreich betrieben zu haben, dass nunmehr mündigere Bürger auch auf politische Liberalisierung drängen. Vielmehr ist nicht klar, wie autoritäre Regime die Widersprüche lösen wollen, sich einerseits auch religiös legitimieren zu lassen, anderseits aber den politischen Islam zu bekämpfen, einerseits wirtschaftlich zu modernisieren, aber andererseits ihr klientelistisches System aufrecht erhalten zu wollen. Viel wahrscheinlicher ist, dass die eigene Widersprüchlichkeit den proklamierten Fortschritt wesentlich beeinträchtigt und sie ihrer Output-Legitimation beraubt. Das Modernitätsversprechen in Autokratien ist somit ein durchschaubares Herrschaftsnarrativ und kein progressives Projekt.

Ausblick

So ist es durchaus denkbar, dass stattdessen die reformorientierten Teile der Zivilgesellschaften die Zukunftsagenda für ihre Länder nicht nur setzen, sondern auch durchsetzen können. Auf vier besonders hoffnungsvolle Fälle sei hier abschließend verwiesen, die daran erinnern, dass das nächste Kapitel des Arabischen Frühlings gerade geschrieben wird:

Libanon, nach Tunesien die zweite – allerdings stark defekte – arabische Demokratie, wird von einer ineffizienten und korrupten Politikerkaste geführt, die sich entlang ethnisch-religiöser Linien die staatlichen Pfründe als „Kriegsbeute“ untereinander aufteilt, wie die Leiterin des Carnegie Middle East Center, Maha Yahya, auf einer Diskussionsveranstaltung der Bertelsmann Stiftung kürzlich ausführte. Zugleich aber gewann eine zivilgesellschaftlich getragene, lagerübergreifende Protestbewegung massiv an Zulauf, die Klientelismus und Missstände wie unzureichende Müllentsorgung, Hyperinflation und Bankenkrise sowie – angesichts der verheerenden Explosion eines Ammoniumnitrat-Lagers im Beiruter Hafen im August 2020 – eine insgesamt grobe Fahrlässigkeit der Regierung anprangert und Hoffnung auf einen Demokratisierungsschub weckt. Auch im Irak, der in den letzten Jahren im BTI aufgrund des unzureichenden Schutzes von Bürgerrechten und Meinungsfreiheit zwischen Demokratie und Autokratie oszillierte, formiert sich zunehmend der zivilgesellschaftliche Widerstand gegen Korruption und identitätsgebundenem Klientelismus.

In Algerien und Sudan schließlich mussten die jahrzehntelangen Machthaber Abdelaziz Bouteflika und Omar al-Bashir aufgrund von Massenprotesten im Frühjahr 2019 zurücktreten. In beiden Fällen gaben sich die zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen nicht mit kosmetischen Änderungen zufrieden, sondern beharrten im Sudan auf einer paritätisch (und nicht nur militärisch) besetzten Übergangsregierung mit der Aussicht auf Wahlen im kommenden Jahr, während in Algerien, wenn auch mit nur eingeschränkter Auswahl, ein neuer Präsident gewählt wurde, Verfassungsänderungen in Kraft traten und zahlreiche hochrangig angesiedelte Korruptionsfälle zur Anklage kamen. Es ist offensichtlich, dass nicht nur die autoritären Herrscher in zahlreichen Staaten in Reaktion auf den Arabischen Frühling ihre Repressionsmechanismen verfeinerten und ausdehnten. Auch die demokratisch gesinnten und reformorientierten Kräfte der Zivilgesellschaft demonstrieren eine beachtliche Lernkurve. Sie haben ihre eigenen Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen der letzten zehn Jahre gezogen und beantworten die eingangs aufgeworfene Frage, ob und wie eine schnelle politische Öffnung destabilisierend wirken kann, wie Demokratisierungsprozesse besser vorbereitet werden können, auf ihre eigene Weise – mit breiten, lagerübergreifenden Koalitionen und mit einer klaren Agenda für notwendige Reformschritte, die über den Austausch von Regierungschefs hinausgehen und schrittweisen Wandel vor zügige Neuwahlen setzen (Bertelsmann Stiftung 2020, S. 8).

Trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge ist die Konstante eines demokratischen Reformwillens offenbar. Insofern sollten westliche Regierungen und Unternehmen nicht den gleichen Fehler wie 2010 begehen, die Friedhofsruhe autoritär regierter Staaten mit Stabilität gleichzusetzen und den Status Quo zu unterstützen. Statt bedingungslos auf Stabilität zu setzen, wäre Demokratie die bessere Alternative – für die arabischen Gesellschaften wie auch für ihre Partner.

 

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