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Negowetti, (Ausschnitt) / via Wikimedia Commons – CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en

Frauenrechte: Polen bereitet Verlassen der Istanbul-Konvention vor

Nach dem Austritt der Türkei aus dem bedeutendsten Frauenschutzvertrag Europas wird Polen möglicherweise folgen.

Der Frauenschutz, Geschlechtergleichheit und LGBT-Rechte sind zu beliebten Angriffszielen der europäischen Autokraten geworden. Kürzlich sorgte Ungarn international für Empörung wegen eines Gesetzes, das Homosexualität mit Pädophilie gleichsetzt und Aufklärung über LGBT-Rechte in den Schulen verbietet. In Polen, das seit 2015 von rechts-nationalen Populisten regiert wird, trat im Januar 2021 das europaweit radikalste Anti-Abtreibungsgesetz in Kraft, demzufolge auch Föten mit schwerer Schädigung geboren werden müssen. All dies geschieht mit Verweis auf Tradition und christlichen Glauben und soll der Bewahrung eines patriarchalischen Familienbilds dienen, das zum Eckpunkt der politischen Programmatik der europäischen Autokraten stilisiert wird.

Es scheint nur folgerichtig, dass Polen nach dem Austritt der Türkei der nächste Anwärter für den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist. Das Schutzabkommen, das der Europarat 2011 in Istanbul beschlossen hat, verpflichtet die Unterzeichnerländer nicht nur gegen alle Formen der Gewalt gegen Frauen vorzugehen und sämtliche diskriminierende Vorschriften abzuschaffen, sondern auch Bildungs- und Beratungsangebote zu gewährleisten sowie die Gesellschaften für Frauenrechte zu sensibilisieren. Es ist der polnischen Regierung seit Jahren ein Dorn im Auge – vorgeblich, weil es mit den Werten der polnischen Verfassung und der in ihr verankerten Familiendefinition nicht vereinbar sei.

Polnischer Verfassungsgerichtshof prüft Frauenschutzabkommen

Der polnische Präsident Andrzej Duda, ein Jurist, rief dazu auf, die Konvention nicht zu beachten. Justizminister Zbigniew Ziobro kritisierte, dass die Definition von „häuslicher Gewalt“ in dem Abkommen nicht nur auf Pathologien wie Drogenkonsum oder Alkoholismus abstelle, sondern auch auf tradierte soziale Geschlechterrollen. Die Konvention wird von der Regierung als Höhepunkt des „Genderismus“ und der „LGBT-Ideologie“ gebrandmarkt. Der Begriff „Gendersteht für die polnischen Rechten für das Böse, das die Nation und ihre Kultur bedrohe. Auf Antrag des Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki wird der Verfassungsgerichtshof, immer fügsam auf Regierungslinie, das Abkommen nun prüfen. Und im Parlament wird bereits eine Gesetzesvorlage diskutiert, die dem Verlassen der Konvention freie Bahn eröffnen würde.

Man mag darin lediglich politisches Taktieren sehen, einen Versuch, die radikalsten Wähler des Regierungslagers zu umgarnen, ohne das Vorhaben wirklich umsetzen zu wollen. Doch die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass solche vermeintlichen Rohrkrepierer plötzlich wiederbelebt werden können, sobald es politisch nützlich erscheint. So folgte auch die Verschärfung des polnischen Anti-Abtreibungsgesetzes auf ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs, von dem viele geglaubt hatten, es würde nie verkündet werden.

Regierung ignoriert verbindliche Verpflichtung auf Frauenschutz

Der Bertelsmann Transformation Index (BTI), der seit vielen Jahren den polnischen Transformationsprozess zu Demokratie und Marktwirtschaft analysiert, nennt Polen heute eine „defekte Demokratie“. Seit 2016 befindet sich die Bewertung der Rechtsstaatlichkeit des Landes deutlich im Fallen auf inzwischen nur noch 6,8 von 10 möglichen Punkten. Im letzten BTI-Länderbericht 2020 heißt es: „Die Veränderungen des Gerichtssystems verringern die Rechtssicherheit und erschweren den Kampf gegen Diskriminierung.“

Ein Verlassen der Istanbul-Konvention würde symbolisch eine weitere Abkehr des Staates von fundamentalen europäischen Werten markieren. Gleichwohl muss die Situation der Frauen aufgrund des de facto Abtreibungsverbots und der Behinderung der Arbeit von Frauenorganisationen auch jetzt schon als besorgniserregend bezeichnet werden. Die formale Gültigkeit des Abkommens hindert die Regierung nicht daran, Pläne zu schmieden, die sowohl dem Text, als auch dem Geist der Konvention widersprechen.

Negieren der geschlechtsspezifischen Gewalt

Zwar sind unterstützt durch die Istanbul-Konvention wichtige Gesetzesänderungen vorgenommen worden. So können die Täter häuslicher Gewalt heute schnell von den Opfern isoliert werden. Auch ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, Verfahren wegen Vergewaltigung qua Amt einzuleiten, auch ohne dass die Opfer den Täter anzeigen müssen. Vieles liegt dennoch, vor allem aus ideologischen Gründen, im Argen.

So kritisieren Frauenorganisationen, dass Gewalt gegen Frauen als Thema im Regierungsprogramm nicht vorkomme, sondern lediglich unter Gewalt in der Familie subsumiert werde. Das Justizministerium entzog gesellschaftlichen Organisationen, die für den Frauenschutz eintreten, die finanzielle Unterstützung, weil ihr Fokus zu eng definiert sei und Gewalt gegen Männer ausschließe. Der Begriff der „Gewalt in der Familie“ wird lediglich auf den engsten Familienkreis bezogen, mit der Konsequenz, dass beispielsweise geschiedene Frauen vor den Wutausbrüchen ihrer Ex-Partner nicht ausreichend geschützt werden. Auch die ökonomische Gewalt gegen Frau wird – entgegen den Bestimmungen der Istanbul-Konvention – nicht anerkannt. Und noch ein letztes Beispiel: Die gesetzliche Definition der Vergewaltigung basiert in Polen auf der Nötigung statt auf der fehlenden Einwilligung, wie es der Europarat empfiehlt. Zum Glück rückte die Regierung wieder von der Idee ab, die Vergewaltigung nach russischem Vorbild so zu definieren, dass ein einmaliger Zwangsakt noch nicht als solche gilt.

Sensibilisierung durch Widerstand

Hauptproblem ist generell ein gesellschaftlicher Mangel an Sensibilisierung für Frauenrechte und geschlechtsspezifische Diskriminierung, der durch die radikal konservative Umstrukturierung der Schulprogramme sowie das gezielte Austrocknen der staatlichen Unterstützung für die nicht regierungskonforme Zivilgesellschaft noch gefördert wird. Hinzu kommt, dass auch die liberalen Regierungen vor 2015 der Problematik der Frauenrechte zu wenig Aufmerksamkeit widmeten. In einem Bericht des polnischen Ombudsmanns für Bürgerrechte Adam Bodnar heißt es: „Die geschlechtsspezifische Diskriminierung ist dermaßen im Alltag der Frauen verankert, dass sie für sie prinzipiell unsichtbar geworden ist.“

Der Angriff auf die Standards der Istanbul-Konvention zeugt von einem rückwärtsgewandten Denken, das Polen familien- und frauenpolitisch in die Nähe Russlands und der Türkei rückt. Doch es regt sich auch Widerstand. Es sind die polnischen Frauen und ihre Unterstützer, die am stärksten gegen die autoritären Tendenzen in Polen protestieren. Eines steht fest: Auch in Polen ist die Hälfte der Bevölkerung weiblich und der Wiederaufbau der polnischen Demokratie, wann immer er auch kommen mag, wird ohne eine volle Anerkennung der Frauenrechte unvollendet bleiben.

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