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Kenias amtierender Präsident Uhuru Kenyatta. Foto: World Trade Organization _DSC6747 / Flickr – CC BY-SA 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wahlen in Kenia: Warum ethnische Zugehörigkeit keine so große Rolle mehr spielt

Im Vorfeld der Parlamentswahlen am 9. August richten sich alle Augen auf Kenia. Es gibt Anzeichen dafür, dass der einst so wichtige Faktor der ethnischen Zugehörigkeit angesichts anderer dringender Anliegen in den Hintergrund tritt.

Die Wahlen in Kenia stehen in dem Ruf, hitzig, kontrovers und von ethnischer Politik bestimmt zu sein. Im öffentlichen Bewusstsein stehen die großen Männer Schlange, um ihre jeweiligen Gemeinschaften zu mobilisieren, und das Ergebnis der Wahlen – wenn sie frei und fair sind – ist kaum mehr als ein ethnischer Zensus. Wer in solchen Klischees denkt, unterschätzt jedoch die Komplexität des politischen Wettbewerbs in Kenia – im Fall der Wahlen 2022 ist ein solches Denken sogar geradewegs irreführend.

Angesichts einer Mischung aus Koalitionskalkül, der wichtigen Rolle der Wirtschaft und des Bewusstseins der führenden Politiker, dass eine positive Leistungsbilanz eine Voraussetzung für die Mobilisierung von Wählerinnen und Wählern ist, spielt ethnische Zugehörigkeit eine weniger wichtige Rolle als in der Vergangenheit. Dies könnte dem Land helfen, eine Wahl zu überstehen, die sich andernfalls aufgrund der persönlichen Differenzen zwischen dem stellvertretenden Präsidenten William Ruto und dem scheidenden Präsidenten Uhuru Kenyatta als eine Herausforderung für die politische Stabilität erwiesen hätte.

Dies ist eine positive Entwicklung, die darauf hindeutet, dass die Wählerinnen und Wähler nicht gewillt sind, sich durch historische soziologische Konstrukte einschränken zu lassen, wenn die politische Führung versagt. Es bedeutet jedoch nicht, dass die Spannungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen der Vergangenheit angehören – oder dass der Ausgang der Wahlen weniger umstritten sein wird.

Koalitionskalkül

Seit dem deutlichen Sieg des Bündnisses der Nationalen Regenbogenkoalition (NARC) über die Kenya Africa National Union 2002 ist Politik in Kenia eine Frage der Koalitionsbildung. Diese Tendenz wurde durch die Einführung der Verfassung von 2010 noch verschärft, da diese vorsieht, dass der siegreiche Präsidentschaftskandidat mindestens 50 Prozent + 1 der Stimmen erhalten muss.

Da jede der wichtigsten ethnischen Gruppen 10 bis 25 Prozent der Bevölkerung ausmacht, muss sich der siegreiche Kandidat die Unterstützung einer Reihe verschiedener Ethnien sichern. Dies begünstigt die Bildung großer ethnisch heterogener Koalitionen, deren Erfolg zum Teil von der Wahrung eines gewissen Maßes an Zusammenhalt und Harmonie zwischen diesen Gemeinschaften abhängt.

2022 hat die Entscheidung führender Vertreter der Kikuyu, nicht zu kandidieren – vielleicht um zu zeigen, dass sie bereit sind, die Macht mit anderen Gruppen zu teilen und so die langfristigen Interessen der Gemeinschaft zu sichern – eine sehr spezielle politische Landschaft geschaffen. Die Präsidentschaftswahlen sind praktisch ein Zweikampf zwischen William Ruto, einem führenden Vertreter der Kalenjin und Vizepräsidenten, und Raila Odinga, einem Anführer der Luo und langjährigen Oppositionsführer. In einer seltsamen Schicksalswende, die zeigt, dass Kenias politische Elite zur Bildung neuer Allianzen in der Lage ist, wann immer dies in ihrem Interesse liegt, gilt Odinga in diesem Rennen weithin als Kandidat des Establishments, nachdem Präsident Kenyatta seinen ehemaligen Rivalen in ein neues Bündnis gebracht hat. Der innerhalb der Regierung an den Rand gedrängte Ruto gilt unterdessen als der prominenteste Oppositionsführer.

Eine der größten Herausforderungen für Odinga und Ruto besteht darin, sich die Stimmen der Kikuyu zu sichern, einer der größten und einflussreichsten Gruppen des Landes. Dies erklärt, warum beide Politiker eine bzw. einen Kikuyu für die Vizepräsidentschaft benannt haben, und unterstreicht ihre engen Beziehungen zu Zentralkenia. Die Koalitionslogik im Jahr 2022 hat daher zum Abbau der Spannungen zwischen den Kikuyu und den Luo und Kalenjin beigetragen; dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen, da diese Gruppen nach den umstrittenen Wahlen 2007 in einige der schlimmsten Gewalttaten des Landes verwickelt waren.

„It’s the economy, stupid“

Wie der großartige, 2014 verstorbene Joel Barkan betont hat, haben Erfolge in Sachen Entwicklung immer eine Rolle gespielt, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene. Die Bedeutung der Wirtschaft ist im Jahr 2022 durch den Einbruch des Tourismus in Verbindung mit steigenden Lebensmittel- und Kraftstoffpreisen, die durch den Krieg in der Ukraine immer weiter in die Höhe klettern, nur noch stärker in den Fokus gerückt.

Im BTI-Bericht 2022 heißt es dazu, die COVID-19-Pandemie habe Kenia in einer heiklen politischen Phase getroffen, in der sich das Land auf die Parlamentswahlen 2022 vorbereite. Bereits in den ersten Monaten der Pandemie schrumpfte die Wirtschaft um 1 bis 1,5 %, was zwei Millionen Menschen in die Armut trieb und die Arbeitslosenquote Mitte 2020 auf 10,4 % ansteigen ließ. Vor diesem schmerzlichen Hintergrund sind viele Kenianer – gleich welcher ethnischen Gruppe – zunehmend frustriert über die anhaltende Korruption und das Versagen der Regierung, die steigende Arbeitslosigkeit und die steigenden Lebenshaltungskosten in den Griff zu bekommen.

Inhalte sind natürlich nur dann Wahlkampftreiber, wenn Politiker sie für ihre Beliebtheit nutzen, und so war William Rutos Entscheidung, eher auf wirtschaftliche Enttäuschung als auf ethnische Konflikte zu setzen, von entscheidender Bedeutung. Ruto gibt sich als „Hustler“, der auf der Seite der einfachen, hart arbeitenden Kenianer steht, und appelliert auf diese Weise geschickt an die wachsende Unzufriedenheit der Öffentlichkeit mit den langjährigen politischen Dynastien des Landes. Diese Strategie, sich mit den Mühen der einfachen Kenianer zu identifizieren und ihnen zu suggerieren, dass nicht nur sie, sondern auch er von der Elite verraten worden seien, hat eindeutig populistische Züge.

Dieses Argument mag zwar nicht überzeugen – Ruto war zwei Amtszeiten lang stellvertretender Präsident und gilt heute als sehr wohlhabend –, aber es spricht dennoch zahlreiche, insbesondere jüngere Kenianer an. Zum Teil konnte Ruto so Unterstützung in Gebieten mobilisieren, in denen er keine Chance gehabt hätte, wenn die Wahl entlang ethnischer Kriterien verlaufen wäre. Der vielleicht bemerkenswerteste Aspekt dieser ethnienübergreifenden Beliebtheit ist, dass Ruto mit dieser Strategie nicht nur eine Reihe von Parlamentariern und Gouverneuren in Zentralkenia auf seine Seite ziehen konnte, sondern auch der beliebteste Kandidat in der ehemaligen Zentralprovinz, einem Kernland der Kikuyu, geworden ist.

Das ist zum einen deshalb bemerkenswert, weil Odinga von Kenyatta unterstützt wird, der nach wie vor der prominenteste politische Führer der Kikuyu ist, und zum anderen, weil Ruto zuvor vom Internationalen Strafgerichtshof der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Mitglieder der Kikuyu beschuldigt wurde. Dies zeigt deutlich, dass ethnische Zugehörigkeit bei den kenianischen Wahlen nicht mehr wahlentscheidend ist.

Eine positive Leistungsbilanz hat schon immer gezählt

Ein Grund für den Erfolg von Rutos Strategie ist die Tatsache, dass sie auf einer langen Geschichte von Wahlen aufbaut, bei denen es um die Fähigkeit der amtierenden Politiker geht, die Entwicklung des Landes voranzutreiben.

Diejenigen, die Bildung, Gesundheitsversorgung und Infrastruktur bereitzustellen scheinen, waren oft in der Lage, Unterstützung über ihr Homeland hinaus zu mobilisieren, wie es J.M. Kariuki nach der Unabhängigkeit tat. Ein klassisches Beispiel ist Mike Sonko, dessen populistische Form der Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen es ihm ermöglichte, zunächst zum Gouverneur von Nairobi gewählt zu werden und dann als ernsthafter Kandidat für das Gouverneursamt in Mombasa – rund 450 Kilometer entfernt – in Erscheinung zu treten.

Der lange Schatten ethnischer Politik

Alles in allem ist es daher wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es sich bei den Wahlen 2022 um eine Evolution und nicht um eine Revolution der Funktionsweise von Politik handelt.

Die Fähigkeit von William Ruto, die Wähler in Zentralkenia für sich zu mobilisieren, zeigt, wie eine zunehmend anspruchsvolle Wählerschaft die Demokratisierung fördern kann. Es ist jedoch wichtig, nicht den Eindruck zu erwecken, ethnische Zugehörigkeit spiele im politischen Leben Kenias keine große Rolle mehr. Ethnische Zugehörigkeit wird die Wahlen nicht entscheiden, aber sie bleibt ein wesentlicher Bestandteil des Verständnisses von Wahlkampf. Während einige ethnische Gruppen ihre Stimmen aufteilen oder für Anführer anderer Ethnien stimmen werden, ist es unwahrscheinlich, dass andere – darunter die Luo und Kalenjin – dies tun werden.

Politischer Wettbewerb und Kontroversen im Zusammenhang mit den Wahlen könnten das Misstrauen zwischen den Ethnien noch verstärken. Es gibt bereits zahlreiche Hinweise darauf, dass negative ethnische Stereotypen und Hassrede in den sozialen Medien kursieren. Genauso wie wirtschaftliche Themen im Wahlkampf 2022 mobilisiert wurden, werden ethnische Unterschiede wieder in den Vordergrund rücken, wenn sich führende Politiker dafür entscheiden, sie in den Mittelpunkt ihrer Botschaft zu stellen. Wie der BTI-Bericht feststellt, versuchen Politiker oft, solche Spaltungen aufrechtzuerhalten:

„In Zeiten abnehmender Polarisierung sind Politiker nicht daran interessiert, Konflikte zu lösen, die durch die Ausnutzung ethnischer Zugehörigkeit entstehen. Stattdessen lassen sie diese Konflikte lieber weiter schwelen, um sie sich in Zukunft zunutze zu machen.“

 

Übersetzung: Dr. Claudia Kotte

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