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The High-Level Economic Dialogue (HLED) between Turkey and European Union convened on February 28, 2019. Photo by Press Eurochambers via flickr.com, CC BY 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Mit oder ohne Erdoğan: Ein Schicksalsjahr für die Türkei

2023 wird für die Türkei ein entscheidendes Jahr. Nicht nur der 100. Jahrestag der Türkischen Republik steht an, sondern auch Wahlen für ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten. Wird sich Erdoğans Abschneiden auf die Haltung der EU gegenüber der Türkei auswirken?

Die Wahlen im kommenden Jahr werden für die Türkei von entscheidender Bedeutung sein und könnten auch ihre Beziehungen zur EU neu ausrichten. Nachdem der Rat für Allgemeine Angelegenheiten der Europäischen Union im Zuge der raschen Autokratisierung der Türkei im Juni 2018 die Beitrittsgespräche sowie alle Schritte zur Modernisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei eingefroren hat, ist das Interesse der türkischen Regierung an engen Beziehungen zur EU, die eine umfassende innenpolitische Reform erfordern würden, gesunken. In dieser festgefahrenen Situation reduzieren sich die Beziehungen weitgehend auf Geschäftliches.

Der Ausgang der Wahlen in 2023 scheint noch offen. Jüngste Umfragen deuten darauf hin, dass die Volksallianz – bestehend aus Recep Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und dem ultranationalistischen Bündnispartner Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) – das kommende Rennen um die Präsidentschaftswahlen verlieren könnte. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob sich die Oppositionsparteien, die sich zum Bündnis der Nation zusammengeschlossen haben, auf einen Herausforderer für Erdoğan einigen und ein Wahlprogramm vorlegen können, das bei türkischen Wählern ankommt.

Verfestigung autokratischer Tendenzen

Während der zwanzigjährigen Herrschaft der AKP entwickelte sich die Türkei von einer defekten Demokratie zu einer Autokratie. Die herrschende Elite setzte zunehmend auf einen nationalistischen, konservativen und mehrheitsfähigen Diskurs. Die nationalistischen Tendenzen wurden nach den Wahlen im Juni 2018, bei denen die AKP ein Wahlbündnis mit der ultranationalistischen MHP einging, noch ausgeprägter. Das an der Mehrheit ausgerichtete Regierungsverständnis der herrschenden Elite verschärfte ethnische, religiöse und politische Konflikte und führte zu politischer und sozialer Polarisierung.

Seit dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 sind die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen repressiven Maßnahmen zu einem festen Bestandteil türkischer Innenpolitik geworden und haben in kürzester Zeit ein autoritäres Land geformt. Der Türkeibericht des Bertelsmann Transformation Index (BTI) 2022 bringt dies zum Ausdruck und benennt als die drei großen Probleme des Landes „die Konsolidierung des Autoritarismus, die wirtschaftliche Anfälligkeit und eine zunehmend konfliktreiche Außenpolitik.“ Der BTI bewertet die politische Transformation der Türkei mit 4,8 von 10 möglichen Punkten und stuft das Land damit als „moderate Autokratie“ ein. Dieser Wert lag 2016 mit 7,25 Punkten noch einiges besser.

Die innenpolitischen Veränderungen wirken sich negativ auch auf die türkische Außenpolitik aus: In der Region tritt die Türkei zunehmend selbstbewusst auf und verfolgt einen unilateralen außenpolitischen Kurs. Beispiele hierfür sind die jüngsten militärischen Operationen in Nordsyrien, Bohrtätigkeiten seit 2019 im östlichen Mittelmeer oder die türkische Einmischung in Libyen. Alle diese Aktionen wurden nicht oder nur in begrenztem Umfang mit den westlichen Verbündeten abgesprochen. In einigen Fällen kollidierten die außenpolitischen Präferenzen der Türkei mit den Interessen der EU, zum Beispiel setzte das Land die Russland-Sanktionen der EU nicht um. Den Boden für solche unilateralen außenpolitischen Aktionen und den meist antiwestlichen, antieuropäischen außenpolitischen Diskurs der herrschenden Elite bereitete der zunehmende Nationalismus und die erstarkende Rüstungsindustrie der Türkei. Zudem ist die türkische Außenpolitik mit dem Übergang der Türkei zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 weniger institutionalisiert, denn der Präsidentenpalast hat alleinige Entscheidungsmacht. Dadurch werden die türkischen Positionen von Konjunkturschwankungen und kurzfristige Interessen beeinflusst und das Land zu einem unberechenbaren und unzuverlässigen Akteur in den internationalen Beziehungen.

Zwei Szenarien für die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU nach den Wahlen

Auf dem Weg in die Autokratie sank der Einfluss der EU auf die Türkei. Auch wenn der Ausgang der Wahlen schwer vorherzusagen ist, lassen sich zwei mögliche Entwicklungen für die türkische Politik und die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei skizzieren.

Ein Wahlsieg der von Erdoğan angeführten Volksallianz würde im ersten Szenario wahrscheinlich zu einer Fortsetzung der derzeitigen Innen- und Außenpolitik führen. Im Gegenzug würde die EU ihren pragmatischen Ansatz gegenüber der Türkei erweitern, ein partnerschaftliches Verhältnis betonen und eine Beziehung, die auf Interessen statt auf Werten basiert, priorisieren. Während die Türkei in diesem Szenario ihre autoritären Tendenzen konsolidiert, werden die EU und ihre Mitgliedstaaten noch weniger Bereitschaft für Zusammenarbeit mit der Türkei an den Tag legen. Eine Beziehung, die nur auf Interessen und den Prioritäten der EU basiert, könnte im Gegenzug wiederum die autokratische Macht in der Türkei weiter festigen und das Land in der Region noch unberechenbarer und durchsetzungsfähiger machen.

Wenn dagegen das oppositionelle Wahlbündnis die zwanzigjährige Herrschaft von Erdoğan brechen kann, wäre es in diesem zweiten Szenario realistisch, einen Normalisierungsprozess in der türkischen Politik zu erwarten. Die Neuordnung wird vermutlich viel Zeit brauchen, da die neue Regierung von der AKP ein dysfunktionales Regierungssystem und wirtschaftliche Probleme erben wird. Darüber hinaus könnten ideologische Differenzen zwischen den sechs Oppositionsparteien das Regierungshandeln behindern, insbesondere bei außenpolitischen Themen wie der Zukunft Syriens, den Beziehungen zu Russland oder Griechenland oder dem Engagement der Türkei im östlichen Mittelmeerraum. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass ein Reformprozess, auch wenn er langsam und von eher symbolischer Natur ist, die Wahrnehmung der Türkei in der EU verändern könnte. Dies könnte dazu führen, dass sich die EU-Mitgliedstaaten auf ein entschiedeneres Vorgehen einigen und konkrete Anreize für die Unterstützung des türkischen Reformprozesses schaffen, wie etwa die Liberalisierung von Visabestimmungen oder die Modernisierung der Zollunion. In diesem Szenario würde die Fähigkeit der EU, die Türkei in einen Reformprozess einzubinden, den Prozess beschleunigen und nachhaltiger machen. Zum einen bedarf es dafür der Glaubwürdigkeit der EU in der türkischen Gesellschaft. Die Bevölkerung muss überzeugt davon sein, dass die Reformen zu einer engen Integration der Türkei in die EU führen werden. Zum anderen muss ein Rahmen mit den Voraussetzungen wieder etabliert werden, der klare Bedingungen, eine genaue Überwachung und glaubwürdige Anreize beinhaltet. Nur so kann die EU mit der Türkei in einen Dialog eintreten, gegenseitiges Vertrauen aufbauen, die Verflechtung vertiefen und letztlich ihren schwindenden Einfluss auf das Land in einer Post-Erdoğan-Ära wiederherstellen.

Eine Version dieses Artikels wurde zuerst auf Euractiv veröffentlicht.

Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.

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