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Ist Indiens Moment auf der Weltbühne gekommen? Die G20-Präsidentschaft und die Zeit danach

Indiens Beziehungen zum Westen haben sich in den letzten Jahren intensiviert, wenngleich das Land Wert auf strategische Autonomie legt. Indien hat gegenwärtig den G20-Vorsitz inne und wird am 9. und 10. September in Neu-Delhi Staats- und Regierungschefs aus aller Welt empfangen. Wie wird Indien sowohl im Rahmen seiner G20-Präsidentschaft als auch danach mit den geopolitischen Spannungen umgehen?

Die Besuche des indischen Premierministers Narendra Modi in westlichen Hauptstädten erreichten in den letzten Jahren wiederholt große Aufmerksamkeit. Obwohl Indien sich weigert, die russische Aggression in der Ukraine offen zu verurteilen, spiegeln Modis Reisen in die Vereinigten Staaten, Australien und verschiedene Länder der Europäischen Union zwischen 2022 und 2023 den Ausbau der strategischen Partnerschaften Indiens mit diesen Ländern wider. Die Glaubwürdigkeit Indiens in der internationalen Zusammenarbeit stieg im Ranking des Bertelsmann Transformation Index (BTI) von sieben von zehn möglichen Punkten im Jahr 2006 auf neun Punkte im Jahr 2022. Damit einher geht nach dem jüngsten Bericht die Wahrnehmung des Landes als „zunehmend einflussreicher ausländischer Akteur“. Indien ist für den Westen vor allem aus zwei Gründen wichtig: Erstens ist es im weiteren Umfeld der strategischen Rivalität mit China ein wertvoller Wirtschafts- und Sicherheitspartner im Indo-Pazifik. Zweitens spielt Indien eine zentrale Rolle bei transnationalen Themen wie dem Klimawandel und neuen Technologien – und darf deshalb nicht außer Acht gelassen werden. Indien nutzt seinen G20-Vorsitz in diesem Jahr, um für die Notwendigkeit von Lösungen zu werben, die Nachhaltigkeit und Integration gewährleisten. Was können wir angesichts der wachsenden globalen Vormachtstellung Indiens von seiner G20-Präsidentschaft und der Zeit danach erwarten?

Indiens G20-Vorsitz

Die indische G20-Präsidentschaft hat eine klare Mission: Sie will die Staats- und Regierungschefs der Welt daran erinnern, inmitten geopolitischer Spannungen zur Vernunft zurückzufinden. Streitigkeiten dürfen nicht dazu führen, dass über transnationale Fragen und Entwicklungszusammenarbeit kein Konsens mehr erreicht werden kann. Trotz der Bemühungen Indiens als G20-Gastgeber ist es den bisherigen Treffen nicht gelungen, aus dem Schatten des Krieges in der Ukraine herauszutreten. Bei den Treffen der Außen-, Finanz- und Klimaminister konnte kein Konsens erzielt werden. Die indische Präsidentschaft hat nach den bisherigen G20-Treffen in Ermangelung gemeinsamer Kommuniqués neun Zusammenfassungen herausgegeben. Das lässt Zweifel an der Möglichkeit einer gemeinsamen Erklärung auf dem September-Gipfel aufkommen. Würde die Ukraine in den Entwurf einer Abschlusserklärung aufgenommen, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass Russland und China nicht zustimmen. Damit würden die G20 zum ersten Mal in ihrer Geschichte kein gemeinsames Kommuniqué veröffentlichen können.

Strategische Autonomie

Die Herausforderungen des indischen G20-Vorsitzes spiegeln die größeren außenpolitischen Prioritäten des Landes wider. Wie bei den meisten Ländern steht das nationale Interesse im Mittelpunkt. Der besondere Schwerpunkt auf Indiens territorialer Integrität und wirtschaftlicher Sicherheit kommt zwar in Modis „Indien zuerst“-Rhetorik zum Ausdruck, ist jedoch im postkolonialen Erbe des Landes verwurzelt, das die Sicherung der Grenzen und die wirtschaftliche Entwicklung zu zwei seiner wichtigsten Prioritäten werden ließ. Indiens erste Premierminister bestimmten, dass das Land, um seine Stärken am besten zur Geltung zu bringen und seinen Interessen zu dienen, in der Außenpolitik einen unabhängigen Weg einschlagen sollte. Einst als „Blockfreiheit“ bezeichnet, hat sich diese Politik in jüngerer Zeit als „strategische Autonomie“ einen Namen gemacht. Ein Schlüsselaspekt der strategischen Autonomie besteht darin, in weitreichenden geopolitischen Konflikten nicht gegen den eigenen Willen Partei zu ergreifen, vor allem dann nicht, wenn dies die eigenen Interessen gefährdet. Dies zeigt sich in jüngster Zeit in der Reaktion auf den Krieg in der Ukraine und dem Verzicht Indiens, die russische Aggression vor den Vereinten Nationen offen zu verurteilen.

Indien und Russland sind langjährige Partner seit dem Kalten Krieg. Russland ist Indiens größter Waffenlieferant, darüber hinaus besteht Zusammenarbeit in den Bereichen Energie und Weltraumforschung. Eine öffentliche Verurteilung Russlands würde diese historische Partnerschaft gefährden. Kaum zwei Monate nach der Invasion begann Indien, seine Ölimporte aus Russland zu erhöhen. Auf den ersten Blick scheint hier eine Politik des Eigennutzes am Werk zu sein, doch sind zwei Dinge bemerkenswert. Erstens hat Indien trotz dieser opportunistischen Manöver Wege gefunden, Russland seinen Unmut über die Entwicklung der Ereignisse in der Ukraine mitzuteilen, etwa indem Modi an Präsident Putin gewandt öffentlich erklärte, dass dies „keine Ära des Krieges“ sei. Zweitens hat Indien durch die Erhöhung seiner Ölimporte aus Russland seine Nachfrage bei anderen wichtigen Lieferanten gesenkt, wodurch mehr Öl für Europa und andere Regionen verfügbar wurde und eine potenzielle globale Energiekrise abgewendet werden konnte.

Ein weiteres Merkmal der indischen strategischen Autonomie besteht darin, dass sie es dem Land ermöglicht, vielfältige Partnerschaften einzugehen, statt nur „Verbündete“ und „Feinde“ zu haben. Wie der BTI-Länderbericht 2022 für Indien feststellt, haben beispielsweise Indien und die USA ihre sicherheitspolitischen Verbindungen seit 2006 stetig ausgebaut – und das trotz der engen Beziehungen Indiens zu Russland. Die bilateralen Beziehungen Indiens zum anderen Rivalen des Westens, China, stehen im Schatten der umstrittenen 3.440 km langen Grenze, die 1962 Anlass für einen Krieg gab. Seit den späten 80er Jahren haben beide Länder einen Weg gefunden, ihre Streitigkeiten einzugrenzen und eine wirtschaftliche Partnerschaft zu schmieden. Ungeachtet gelegentlicher Grenzkonflikte hielten China und Indien friedliche Beziehungen aufrecht.

Vor allem im Hinblick auf Indiens Beziehungen zu den Großmächten üben gegenwärtig jedoch geopolitische Spannungen Druck auf die strategische Autonomie aus. Der Krieg in der Ukraine bedeutet für Indien, dass es schwieriger werden wird, Militärgüter aus Russland zu beziehen. Darüber hinaus wird seit 2020 Indiens heikler Balanceakt mit China durch tödliche Zusammenstöße entlang der umstrittenen Grenze gefährlich gestört. Darauf hat Indien mit Sanktionen gegen Technologie aus China reagiert und damit ernsthafte Reibungen in den Beziehungen signalisiert. Für Indien schwächt sich der strategische Wert der Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen zu Russland und China ab – und lässt Erinnerungen an ähnliche westliche Politikerfahrungen aufkommen. Auch wenn Indien bisher an seiner strategischen Autonomie festhält, könnte es sich bald mit großen Herausforderungen konfrontiert sehen, wie einer möglichen Vertiefung der Beziehungen zwischen China und Russland, der Verschärfung der Spannungen an der Grenze oder einer Eskalation von Chinas militärischer Macht gegen Taiwan. In solchen Situationen würde sich Indien wahrscheinlich dem Westen zuwenden.

Parlamentswahlen 2024

Während sich die indische Außenpolitik an die sich verändernde Geopolitik anpasst, schreitet das Land auf die Wahlen im nächsten Jahr zu. Die außenpolitischen Manöver in diesem Jahr müssen auch in diesem Kontext interpretiert werden. Indiens G20-Vorsitz und Modis Treffen mit führenden Politikern der Welt haben ein doppeltes Ziel: einerseits die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zu lenken und andererseits die heimische Wählerschaft für sich einzunehmen. Auch wenn die Modi-Regierung einen ähnlichen außenpolitischen Kurs wie vorangegangene Regierungen verfolgt, ist ihre Besonderheit, dass sie diese Strategien mit selbstbewusstem Auftreten präsentiert. Dieser Ansatz spricht Teile der indischen Bevölkerung an. Bei verschiedenen internationalen Gelegenheiten beschrieb die Modi-Regierung Indiens Rolle als „Vishwaguru“ oder die eines „Weltlehrers“, ein Narrativ, das nationalistischen Stolz fördert, indem es Indiens kulturelle Fähigkeiten hervorhebt. Die seit 2014 an der Macht befindliche Bharatiya Janata Party ist heute die reichste Partei Indiens. In Verbindung gebracht wird sie auch mit der Schwächung demokratischer Institutionen und der Aushöhlung bürgerlicher Freiheiten – ein Aspekt, der im Länderbericht Indien des BTI 2022 eingehend untersucht wird. Sollte die Modi-Regierung aus den nächsten Wahlen als Sieger hervorgehen, wird der Westen einem komplexen Indien gegenüberstehen: einem Land, das sich weltweit für Demokratie und Vielfalt einsetzt, aber vor Ort mit ihrem langsamen Niedergang und Verfall konfrontiert ist.

Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.

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