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The leaders of the GCC countries stand with US-President Joe Biden. Photo: The White House / Wikimedia Commons – CC0, Public Domain, https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/

Geänderte Pläne? Saudischer Regionalismus nach Gaza

Im Zuge des Kriegs im Gazastreifen geht Saudi-Arabien auf der internationalen Bühne auf Nummer sicher und legt seine vorsichtige Annäherung an den Iran auf Eis. Wie wird der anhaltende Konflikt die regionalen Ambitionen des Landes beeinflussen?

2023 ging Saudi-Arabien mit neuem diplomatischem Elan aus der Corona-Pandemie hervor. Zur Verwirklichung seiner ehrgeizigen Vision 2030 hat das Königreich den Grundstein für eine regionale Ordnung gelegt, in deren Mittelpunkt es selbst und die Golfregion im weiteren Sinne stehen sollen. Im März war es auf Vermittlung Chinas überraschend zu einer Annäherung zwischen dem Königreich und dem Iran gekommen, was zur Wiederaufnahme der 2016 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten führte. In deren Gefolge fanden Gespräche zwischen der saudischen Regierung und den vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen im Jemen statt. Die Unterstützung für die Palästinenser hielt zwar an, gleichzeitig schien das Königreich jedoch eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel anzustreben. Diese Bemühungen gerieten mit Beginn des israelischen Kriegs in Gaza Anfang Oktober ins Stocken. Ende Oktober hieß es nach Gesprächen zwischen dem saudischen Verteidigungsminister Khalid bin Salman und hochrangigen Vertretern der Regierung Biden jedoch, Saudi-Arabien habe die Tür zur Normalisierung nicht verschlossen.

Eine neue Vision

Mit der Ernennung Mohammed Bin Salmans (MBS) zum Kronprinzen 2017 und der Entwicklung der Vision 2030 hat Saudi-Arabien eine neue Ära der regionalen und internationalen Diplomatie eingeläutet. Ihr Ziel ist eine Umgestaltung der regionalen Geopolitik und eine Neuausrichtung der arabischen Welt auf den Golf, damit alle Wege nach Riad führen.

Die Vision sieht einen Umbau der Wirtschaft vor, der die gesellschaftliche Öffnung unter Führung von MBS prägt: Es gibt Konzerte, Frauen dürfen Auto fahren, und die Vormundschaftsgesetze wurden teilweise gelockert. Investitionen in alle Bereiche der heimischen Wirtschaft, von der Technologie bis zum Fußball, werden massiv gefördert. Doch der Glanz und Glamour der Revitalisierung des Königreichs unter MBS hat auch eine Kehrseite. Die Zivilgesellschaft bleibt an der kurzen Leine, da formelle Organisationen eine königliche Erlaubnis benötigen, um tätig zu werden. Politisches Engagement der Zivilgesellschaft ist verboten, Journalisten und Medien werden durch ein 2003 eingeführtes Pressegesetz stark zensiert. Bei Verstößen drohen lange Haftstrafen und lebenslange Berufsverbote. Nach Angaben des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) rangierte Saudi-Arabien 2022 unter den zehn Ländern, in denen die meisten Journalisten in Haft sitzen.

Bei der Vision 2030 handelt es sich um eine königliche Initiative, die gesellschaftliche Kontrolle und politische Stabilität voraussetzt und politischen Wandel bislang verhindert hat. Die geplante Umsetzung der Vision wird Dezentralisierung und Bürgerbeteiligung eher einschränken als fördern. So heißt es im jüngsten Bericht des Bertelsmann Transformation Index (BTI) für Saudi-Arabien: „Die Aussicht auf nationale Wahlen ist eine sehr entfernte, wenn nicht gar undenkbare Möglichkeit, zumindest solange die absolute Monarchie überlebt. Die saudische Monarchie hat, wie andere Golfmonarchien auch, die Proteste des Arabischen Frühlings überlebt, indem sie entweder ihre Bevölkerung bestochen oder Zwangsmaßnahmen gegen die Demonstrierenden ergriffen hat. Hinzu kommt, dass saudische Bürger nur wenig über westliche demokratische Regierungssysteme wissen und dass es kaum eine breite gesellschaftliche Nachfrage nach Demokratie gibt.”

Der BTI-Bericht bewertet die politische Transformation in Saudi-Arabien mit 2,5 von 10 Punkten, was das Land zu einer „harten Autokratie“ macht. Zu einer Abkehr vom etablierten Modell der absoluten Monarchie ist es nicht gekommen.

Absicherung auf der Weltbühne

Wenn es darum geht, die regionale Geopolitik so zu gestalten, dass sie der Verwirklichung der Vision 2030 dienlich ist, sichert sich Saudi-Arabien in beide Richtungen ab und verfolgt gegensätzliche strategische Initiativen, um die Risiken zu minimieren. Die wichtigsten Indikatoren sind: militärische Konsolidierung in Ermangelung eines erklärten Feindes, verstärkte Beteiligung an bi- und multilateralen Kooperationen und eine Taktik zur Verbesserung der Beziehungen zwischen regionalen und/oder internationalen Mächten.

Das saudische Vorgehen im israelisch-palästinensischen Konflikt ist derweil bezeichnend. Die Vorteile einer Normalisierung der Beziehungen zu Israel liegen zum einen im Zugang zu israelischer Technologie und ihren militärischen Anwendungen, zum anderen im Zugang zu einem Sicherheitsabkommen mit den Vereinigten Staaten. Beides würde die militärische Entwicklung des Königreichs vorantreiben und ein Gegengewicht zu den Bedrohungen durch den Iran bilden. Wie die Annäherung vom März 2023 indes signalisiert, geht Riad davon aus, dass kurzfristig keine eindeutige und akute Gefahr vom Iran ausgeht.

Gleichzeitig hat sich Saudi-Arabien nicht von der Palästinenserfrage abgewandt. Als Hüter der beiden heiligsten Stätten der islamischen Welt vertritt Saudi-Arabien seit Jahrzehnten offiziell die Position, dass es ohne die Schaffung eines palästinensischen Staates keine Anerkennung geben wird: Das wahhabitische klerikale Establishment, die öffentliche Meinung und die Präsenz zahlreicher Palästinenser in Saudi-Arabien, die als ausländische Arbeitskräfte im Königreich tätig sind, machen ein Abweichen von dieser Haltung schwierig. Im September soll MBS jedoch erklärt haben, er hoffe, die Normalisierung der Beziehungen zu Israel werde „das Leben der Palästinenser erleichtern“, ohne sich dabei auf die Gründung eines Staates zu beziehen – eine offensichtliche Abweichung von der arabischen Friedensinitiative, die Saudi-Arabien 2022 vorgeschlagen hatte. Dies unterstreicht das Fehlen konkreter Angaben darüber, wie Riad sich Fortschritte in Richtung palästinensischer Staatlichkeit vorstellt.

Konkurrenz von der Golfregion bis zum Iran

Innerhalb des Golf-Kooperationsrates (GCC) hält Katar die diplomatischen Schlüssel in der Hand, und Doha entwickelt sich zu einem regionalen Zentrum für Konfliktlösung. Was Saudi-Arabiens Pläne für eine regionale Hegemonie angeht – und was für das Königreich einigermaßen beunruhigend sein dürfte –, so haben sich die Katarer als geschickt darin erwiesen, Vereinbarungen für Konflikte auszuarbeiten, an denen Saudi-Arabien maßgeblich beteiligt war: Libanon, Syrien und jetzt Gaza, wobei Katar die Hintertür für die Vermittlung zwischen der Hamas, den USA und Israel öffnet. Außerhalb des Golf-Kooperationsrates hat sich der Iran bei der Ausweitung seines regionalen Einflusses als flexibel und proaktiv erwiesen, und zwar wiederum in Bereichen, in denen Saudi-Arabien größeren Einfluss hatte oder anstrebt: im Jemen, Libanon, Irak, in Syrien und Palästina. Als Standort der drittheiligsten Stätte des Islams, der al-Aqsa-Moschee, und als Teil der stillen saudi-arabisch-haschemitischen Rivalität stellt Palästina ein wichtiges Element in Saudi-Arabiens Plan für arabische und regionale Hegemonie dar.

Um dieser Konkurrenz an beiden Fronten zu begegnen, hat sich die konservative Außenpolitik des Königreichs bisher als nachteilig erwiesen. Zwar hat MBS diesen Konservatismus verändert, doch die proaktiven Manöver wie etwa im Jemen waren ungeschickt. Ob und wie Saudi-Arabien in der Lage ist, das vielschichtige Geflecht seiner Absicherungsstrategie nach dem Gaza-Krieg auszubalancieren und zu verfeinern, wird tiefgreifenden Einfluss auf die geopolitische Ordnung im Nahen Osten nach dem Arabischen Frühling haben.

Auch wenn der Krieg im Gazastreifen weitere Gespräche über eine Normalisierung zum Erliegen gebracht hat, bieten sich dem Königreich nach wie vor Chancen. Erstens könnte die Schwächung oder Zerstörung der Hamas Saudi-Arabien die Möglichkeit geben, einen Stellvertreter heranzuzüchten, der kein Verbündeter des Iran ist, was dem Land einen wichtigen Hebel in künftigen Gesprächen mit Israel verschaffen würde. Dies würde die Position des Iran im östlichen Mittelmeerraum schwächen. Zweitens ist das Ausmaß der Zerstörung eine Chance für Saudi-Arabien, sich am Wiederaufbau und an der Versöhnung zwischen rivalisierenden palästinensischen Gruppierungen zu beteiligen, sowohl im Gazastreifen als auch in der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland. Dies wiederum könnte Saudi-Arabien größeren Einfluss auf die künftige palästinensische Politik verschaffen.

Wenn Saudi-Arabien aus dem derzeitigen Krieg in Gaza als Friedensstifter und Fürsprecher für Palästina hervorgehen kann, wird es seine regionale Position auf Kosten seiner Konkurrenten weiter stärken. Doch sind diese potenziellen Vorteile mehr wert als das, was es von den Vereinigten Staaten (Sicherheitsabkommen und Entwicklung) und Israel (Technologie) erhalten könnte? Vorerst wird das Königreich weiterhin auf Nummer sicher gehen.

Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Claudia Kotte

 

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