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Statusk(r)ampf: Russland zelebriert seinen BRICS-Vorsitz

BRICS ist ein Grundpfeiler der multipolaren Welt.“ Mit diesen Worten leitete Außenminister Lawrow den BRICS-Vorsitz Russlands im Jahre 2024 ein. Er soll ein Meilenstein im Kampf gegen die US-Hegemonie und für eine neue multipolare Weltordnung sein, was allerdings mit der von Moskau praktizierten Verve keineswegs von allen BRICS-Mitgliedern geteilt wird. Das beeindruckt Russland nicht, denn wählerisch kann es nicht sein, angesichts des internationalen Gegenwinds, den es seit seinem Überfall auf die Ukraine erfährt: Abgesehen von der Waffenbrüderschaft mit Nord-Korea und Iran steht Moskau mit Minsk im Schlepptau ziemlich isoliert da. Mit diesen hat es eine veritable „Axis of Evil“ etabliert. Umso mehr investiert Russland in die BRICS, dessen Vorsitz ihm turnusgemäß zugefallen ist: 250 Aktivitäten wurden 2024 geplant, derart viele, dass sich die meisten BRICS-Mitglieder erklärtermaßen überfordert fühlten. Höhepunkt wird der Gipfel der Staats- und Regierungschefs vom 22. bis 24. Oktober in Kasan sein.  

BRICS – eine heterogene Gesprächsplattform 

Zwar sind die Daten der BRICS eindrucksvoll: Sie vereinen nach der Erweiterung um vier Staaten Anfang 2024 mehr als 45% der Weltbevölkerung, 36% der globalen Wirtschaftsleistung (BIP, auf Basis der bei den BRICS so beliebten Kaufkraftparitäten, die Arme reicher und Reiche ärmer machen) und 25% des Welthandels, von ihrer Kontrolle wichtiger Rohstoffe wie Erdöl ganz zu schweigen. Das allein übersetzt sich jedoch nicht in kollektive Macht, denn zugleich sind die BRICS ein wirtschaftlich wie vor allem politisch ziemlich heterogener Zusammenschluss. So weisen die Daten des Bertelsmann Transformations Index für 2024 aus, dass die aktuellen BRICS-Mitglieder bei der „politischen Transformation“, die von der Staatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit über die politische Partizipation bis zur politischen und gesellschaftlichen Integration reicht, praktisch das gesamte Spektrum der 137 erfassten Länder abdecken. 

Zwei Länder, die Ende 2023 ebenfalls zum Beitritt eingeladen worden waren, markieren noch markanter die politischen Extreme zwischen Demokratie und Autokratie: Argentinien (7,45/22), das nach der Wahl des neuen Präsidenten Milei den Beitritt ablehnte, und am anderen Ende Saudi-Arabien (2,73/124), das sich nicht so recht entscheiden kann. 

Die politische Heterogenität schließt ein, dass den BRICS auch eine gemeinsame normative Basis und selbst ein gemeinsames Grundsatzdokument abgehen. Der Konsens erschöpft sich in der Leitlinie von Außenminister Lawrow vom Mai 2024: „Die einzige Bedingung ist, dass Sie sich bereit erklären, auf der Grundlage des Grundprinzips der souveränen Gleichheit der Staaten zu arbeiten“, wozu der Westen nicht in der Lage sei. Neben der normativen Basis fehlen nicht minder gemeinsame Institutionen. Die BRICS sind und bleiben wenig mehr als eine Dialogplattform nach dem Muster der 134 Mitglieder starken G-77 aus dem Jahre 1964 (der im Übrigen außer Russland auch alle anderen BRICS-Mitglieder angehören). Wie bei der G-77 fordert die BRICS-Mitgliedschaft weder Kosten noch Verpflichtungen. Daher auch die lange Liste von mehr als 30 Beitrittsaspiranten, einschließlich des NATO-Mitglieds Türkei. Es bleibt abzuwarten, wie mit diesen Beitrittswünschen in Kasan umgegangen wird, denn auch bei den BRICS gibt es den Zielkonflikt zwischen Erweiterung und Vertiefung. Nach „BRICS+“ sind die „BRICS-Partner“ offenkundig die von Moskau präferierte Variante, um sich Russlands überragendes Interesse – die Sanktionsbewältigung – nicht verwässern zu lassen. Beijing hingegen drängt auf Erweiterung, um eine möglichst breite Plattform für seine weltpolitischen Ambitionen zu schaffen, während es finanzpolitisch unilateral auf sein wachsendes ökonomisches Gewicht vertraut. 

Gibt es hier in der Tendenz unterschiedliche Präferenzen, sind sich Moskau und Beijing – zusammen mit Teheran – in einem anderen Punkt völlig einig: Sie bilden zu dritt den harten Kern der antihegemonialen, sprich: antiwestlichen, „Avantgarde der Weltmehrheit“, wie es Jurij Uschakow, Putins Außenpolitik-Experte, bezeichnete. Ihnen geht es um die Schaffung einer neuen Weltordnung, nicht um eine Reform der bestehenden. Dem folgt die BRICS-Mehrheit nicht. Sie fühlt sich dem von Indien propagierten Prinzip des „Multi-Alignment“ verpflichtet, was bei allen multipolaren Sympathien den Westen ein- und nicht ausschließt.  

Russische Ambitionen als Avantgarde der „Weltmehrheit“ 

Die „Weltmehrheit“ ist zum bevorzugten Moskauer Placebo gegen seine internationale Isolation avanciert, wobei es sich der BRICS als „globalem Organisationsprinzip für den Globalen Süden und Osten“ zu bedienen sucht, so Außenminister Lawrow. Mit der (Wieder-)Entdeckung des globalen Südens nach dem Überfall auf die Ukraine 2022 feierte auch die antikoloniale Rhetorik vergangener Jahrzehnte eine Wiederauferstehung. Allerdings: Die antikoloniale Attitüde ist reiner Etikettenschwindel der letzten großen Kolonialmacht, zumal Russland den globalen Süden für Jahrzehnte als überflüssigen und kostspieligen Sowjet-Ballast abgeschüttelt hatte (u.a. mit bis in die Gegenwart minimalster Entwicklungshilfe im Volumen von maximal 0,05% seines BIP). 

Die zahlreichen Aktivitäten Russlands im Jahr seines BRICS-Vorsitzes zielen sowohl auf diese „Weltmehrheit“ als auch auf das eigene Publikum, denen gemeinsam demonstriert werden soll, dass es jenseits des Westes eine alternative Wirklichkeit gibt. Dazu gehörten wegweisende Dinge wie der erste „BRICS+ Fashion Summit“, ein Forum von BRICS-Partnerstädten oder auch ein BRICS-Filmfestival sowie ein BRICS-Festival der Theater-Schulen. Herausragend und ein Meilenstein auf dem russischen Weg zur „Sport-Multipolarität“ waren die BRICS „Spiele der Zukunft“ im Juni 2024 in Kasan, die in diesem Format und mit angeblich 82 Nationen erstmals stattfanden. Den russischen (und weißrussischen) Sportlern boten die Spiele einen Ersatz für den Ausschluss von Olympia, während andere Nationen eher pro forma antraten. Was Wunder, dass von den 1161 vergebenen Medaillen Russland mit 507 nahezu die Hälfte errang, Belarus mit 247 den zweiten Platz belegte, während China kaum mehr als 61 Medaillen aufzuweisen hatte.  

Allerdings ging der „Sport-Multipolarität“ kurz danach schon wieder die Luft aus: Die für September geplanten „Weltfreundschaftsspiele“ – eine offenkundige Neuauflage der realsozialistischen „Spartakiaden“ und mit dem Anreiz von 50 Millionen US-Dollar an Preisgeldern ausgestattet – wurden nach Protesten des IOC abgesagt. In gleicher Weise ventilierte Moskau mit wenig Fortüne die Chance, im Rahmen der BRICS den einstigen „Intervision Song Contest“ des Ostblocks wiederzubeleben. 

Auf dem Weg zu einer „Finanz-Multipolarität“? 

Das „übergeordnete Thema“ des russischen Vorsitzes, so Finanzminister Siluanow, ist jedoch die Schaffung einer neuen internationalen Finanzarchitektur unabhängig vom US-Dollar. Das kann nicht verwundern, denn für Russland ist die Eindämmung der westlichen Sanktionen, die im Finanzsektor besonders spürbar sind, zu einer wirtschaftlichen Überlebensfrage geworden.  

Zweifellos eint alle BRICS-Mitglieder das Unbehagen über die Dominanz des US-Dollars, zumal die USA diese seit 2010 zusehends als politische Waffe einsetzen. Damals auch gab es unter den BRICS die ersten Vorstöße zu einer „Entdollarisierung“. Alle – mit Ausnahme Russlands – eint aber auch, dass der Kampf gegen den US-Dollar nicht mit unkalkulierbaren Risiken und unvertretbaren Kosten verbunden sein darf. Es geht ihnen folglich nur um zusätzliche Optionen. 

Dafür stehen die Chancen nicht übermäßig gut, denn das starke wirtschaftliche Gewicht der BRICS, spiegelt sich nicht annähernd auf dem internationalen Finanzmarkt: Der Anteil des US-Dollars an den globalen Devisenreserven beträgt 58% (€ 20%), am Devisenhandel (FX) 88% (€ 31%) und am Exportgeschäft 54% (€ 30%). Die „Neue Entwicklungsbank“ der BRICS, mit einer Kapitalausstattung von 100 Milliarden US Dollar 2015 gegründet, operiert nicht nur nahezu komplett im Rahmen des US-Dollars, sie befolgt auch die westlichen Sanktionen: Projekte in Russland wurden eingestellt, Projekte mit russischer Beteiligung in Drittländern vertagt. Der ebenfalls 2015 aufgelegte BRICS-Währungsfonds (Contingent Reserve Arrangement) wurde von den teilnehmenden Zentralbanken eingefroren, und Zahlungsbilanzhilfen bislang nicht geleistet. 

Zwei Projekte der „Entdollarisierung“ stehen im Mittelpunkt der Vorbereitung auf den Gipfel in Kasan: die Erhöhung des Anteils der nationalen Währungen im Warenverkehr sowohl untereinander als auch über die BRICS hinaus und ein Ausbau der BRICS-Finanzinfrastruktur. Für Russland dienen beide zugleich der Sanktionsbewältigung im Finanzsektor, werden in der Umsetzung jedoch immer wieder von diesen eingeholt.  

Nach Angaben von Putin wickelte Russland Anfang 2024 mit China bereits 90% seines Handels in Rubeln und Yuan ab, ein Modell sowohl für den Handel der BRICS-Mitglieder als auch der Eurasischen Wirtschaftsunion. Allerdings: US-Sekundärsanktionen haben seit Dezember 2023 bewirkt, dass Russland auch im Verkehr mit den notwendigen Korrespondenzbanken aus China, der Türkei, den Emiraten und Indien sowie selbst solchen aus Kasachstan und Usbekistan auf wachsende Hürden stößt. Sie lehnten Anträge auf Eröffnung von Konten für russische Geschäftspartner ab, setzten Überweisungen aus, verlängerten die Bearbeitungszeiten für Zahlungen und überprüften russische Geschäftspartner auf Zusammenarbeit mit der Rüstungsindustrie und Aufnahme in Sanktionslisten. Das galt auch für russische Zahlungen in Yuan.  

Ähnliche Probleme bereitet nach dem Ausschluss der russischen Banken von SWIFT die Schaffung eines eigenständigen Kommunikationsnetzes für Finanztransaktionen. Hier ist im Rahmen des Projekts einer „BRICS Bridge“ als „Plattform für mehrseitige Zahlungen“ geplant, die nationalen Systeme für den Informationstransfer von Banken zu verkoppeln. Das stößt jedoch auf das Problem, dass der russische Dienstleister ebenfalls mit US-Sanktionen belegt ist. Ventiliert werden daher auch Zahlungsabwicklungen über Blockchain-Technologie oder gar Kryptowährungen und Stablecoins. Dass supranationale Geldsurrogate Aussicht auf Verwirklichung haben, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich in einer Assoziation, deren Mitglieder sich vor allem die Sicherung ihrer nationalen Souveränität auf die Fahnen geschrieben haben. 

Ein weiteres systemisches Problem der Abkoppelung vom US-Dollar hat sich in Russlands Handel mit Indien eingestellt. Da sich Indien weigerte, den dank des russischen Ölexports massiv ausgeweiteten Handel mit Russland in Yuan abzuwickeln, steht Moskau vor dem Dilemma, wie es seine beträchtlichen Rupien-Überschüsse in Höhe von 2024 mehr als 57 Milliarden US-Dollar nutzen kann. In diesem Kontext wird in Moskau immer wieder auf die Notwendigkeit einer (synthetischen) BRICS-Reservewährung verwiesen, über die solche Ungleichgewichte der Zahlungsbilanzen ausgeglichen werden könnten. Und als Modell wird hier trotz aller Aversionen gegen den Westen ganz offiziell der Vorläufer des Euro, der ECU (European Currency Unit), aus dem Jahre 1979 angepriesen. 

Traum und Wirklichkeit 

Der schon früher gescheiterte Versuch, eine eigene BRICS-Ratingagentur zu gründen, demonstrierte, wie schwierig es ist, die etablierte Finanzordnung zu umgehen oder gar aus den Angeln zu heben. Darüber hinausgehende Projekte wie die Schaffung eines vollwertigen BRICS-Finanzsystems erfordern Geld- und Vertrauensinvestitionen, zu denen die BRICS-Mitglieder absehbar nicht bereit sind.  

Selbst russische Beobachter räumen ein, dass die Überwindung der Abhängigkeit vom US-Dollar und von den westlichen Finanzinstitutionen die Schaffung einer völlig autarken interregionalen BRICS-Finanzarchitektur, idealiter einer interregionalen BRICS-Währung, voraussetzt. Erst dann sei eine „finanzielle Multipolarität“ zu erreichen. Dafür fehlen alle Voraussetzungen. 

Das hinderte jedoch Außenminister Lawrow nicht, am Beginn des russischen Vorsitzes zu deklamieren: „Von nun an wird die Ausgestaltung des globalen Wirtschaftssystems unterschiedlichen Wegen folgen.” Solche Statements spielen sich allerdings in den luftigen Höhen der antiwestlichen Kriegspropaganda ab, die Lawrow mit besonderer Hingabe pflegt. Auf dem Boden der harten finanzpolitischen Realitäten stellen sich die Dinge gänzlich anders da. Lawrows Stellvertreter und russischer BRICS-Sherpa Sergej Rjabkow dämpfte Mitte des Jahres die Erwartungen: „Vielleicht wird es keine Entscheidungen geben, die alles radikal verändern werden. Wahrscheinlich ist das auch gar nicht nötig. Schließlich handelt es sich hier um einen so sensiblen Bereich, in dem der evolutionäre Fortschritt optimal ist.“ Hätte sich Russland nur bei anderer Gelegenheit an diese Maxime gehalten….

Erstveröffentlichung in Global Policy.

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