Das Auseinanderdriften der BRICS-Staaten: Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten?
In diesem Monat findet zum zehnten Mal der Gipfel der BRICS-Staaten statt – der aufstrebenden Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Doch wie lange hält dieser Zusammenschluss noch angesichts der beträchtlichen politischen und wirtschaftlichen Unterschiede?
Fast 17 Jahre nachdem die Großbank Goldman Sachs den Begriff „BRIC“ für die schnell wachsenden Volkswirtschaften Brasilien, Russland, Indien und China prägte, die dem Westen in wirtschaftlicher Hinsicht Konkurrenz zu machen begannen, trifft sich die Gruppe, in deren Kreis vor einigen Jahren auch Südafrika aufgenommen wurde, zu einem Gipfel vom 25. bis 27 Juli in Johannesburg. Obwohl alle BRICS-Staaten in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich gewachsen sind und in der Beseitigung der extremen Armut große Fortschritte gemacht haben, bleibt fraglich, ob ein Zusammenschluss in einem sozioökonomischen oder geopolitischen Block noch Sinn macht. Die Kooperation der Länder hält sich bislang in Grenzen und zunehmend fallen sie hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auseinander: Nur Indien und China konnten ihre hohen Wachstumsraten halten.
Die Gruppe der BRICS-Staaten ist sehr heterogen – weder Ideologie, noch Geographie oder Kultur eint sie. Sie alle sind aufstrebende Märkte, die in ihren Regionen allein schon durch ihre Größe eine Führungsrolle beanspruchen. Das einzige echte gemeinsame Interesse besteht darin, dem „euro-amerikanischen Club“, der die Weltwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert beherrscht, die Stirn zu bieten und sich jegliche westliche oder internationale – wie sie es sehen – „Einmischung“ in ihre inneren Angelegenheiten zu verbieten.
Wo steht die Gemeinschaft der BRICS-Länder?
Über diese gemeinsame globale Einschätzung hinaus wurden Anstrengungen unternommen, die wirtschaftliche Kooperation untereinander zu stärken. Im Jahr 2015 wurde die New Development Bank (deutsch: Neue Entwicklungsbank) als Alternative zu herkömmlichen Institutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond mit einem Investitionskapital von 100 Milliarden US-Dollar für Entwicklungsprojekte gegründet. Weitere 100 Milliarden US-Dollar gaben die BRICS-Staaten in das sogenannte Contingent Reserve Arrangement, einem Reservefonds, der die Volkswirtschaften vor finanzieller Instabilität und Währungsspekulation schützen soll.
Abgesehen von gelegentlichen Vorstößen, die BRICS-Länder sollten in Konkurrenz zum US-Dollar eine eigene Reservewährung schaffen oder eine Alternative zum internationalen Bezahlungssystem SWIFT auf die Beine stellen, blieben die Bemühungen um Einigung eher verhalten. Bis heute hat die Zusammenarbeit der BRICS-Staaten keine weiteren Bündnisse nach westlichem Vorbild wie die NATO oder die Europäische Union hervorgebracht. Daran dürfte sich auch künftig kaum etwas ändern.
Waren in den ersten Jahren des neuen Millenniums noch alle BRICS-Länder dabei, den wirtschaftlichen Abstand zu den westlichen Industrienationen zu verringern, konnte dieser Trend sich nach einigen Jahren nicht fortsetzen. Nur noch die Giganten China und Indien sind auf einem guten Weg, während Russland schrumpft und auch Brasilien und Südafrika inzwischen zurückfallen.
Brasilianer von der Politik enttäuscht
Ein wenig schmeichelhaftes Sprichwort besagt: „Brasilien ist das Land der Zukunft – und wird es immer bleiben.“ Die jüngste Vergangenheit scheint das leider zu bestätigen. Weit verbreitete Korruption, die politische Instrumentalisierung von Gerichtsverfahren und die unüberbrückbare Spaltung der politischen Elite setzen dem politischen Leben Brasiliens zu. Der Fall der Rohstoffpreise und der Vertrauensverlust der Investoren haben die Wirtschaft erschüttert. Schon wird die gegenwärtig mittelmäßige Wirtschaftsleistung mit einer hohen Arbeitslosigkeit von 12,6 Prozent und dem Rückgang des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts (BIP) künstlich durch eine wenig nachhaltige Politik der schuldenfinanzierten Staatsausgaben aufgepäppelt. Die Staatsschulden sind von 51,4 Prozent des BIP in 2013 auf 74 Prozent in 2017 explodiert. Das Haushaltsdefizit betrug im letzten Jahr 7,8 Prozent des BIP. Gesellschaftlich bleibt Brasilien ein Land der sozialen Ungleichheit und mit 61.283 Morden 2016 auch eines der gewalttätigsten Länder der Welt. Trotz des Wirtschaftswachstums vergangener Jahre hat sich die ungleiche Situation der Ethnien kaum verbessert.
Von ihrer Regierung sind die Brasilianer enttäuscht. der Brasilienbericht des Bertelsmann Transformation Index (BTI) hält fest: „Brasilien gehört zu den Ländern in Lateinamerika, in denen die Demokratie am wenigsten Unterstützung erhält. 2016 gaben nur 32 Prozent der Befragten an, sie bevorzugten die Demokratie vor allen anderen Regierungsformen. Das war nach Guatemala der zweitschlechteste Wert in der Region. 2016 erreichte die Zustimmung zu einer autoritären Regierung unter bestimmten Vorraussetzungen 55 Prozent.“
Südafrika im Abwärtstrend
Noch schlechter ist die Situation in Südafrika. Das Land leidet unter noch größerer Armut, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und einer oft erschreckenden Gewalt. Die südafrikanische Wirtschaft konnte in den letzten Jahren nur geringes oder gar kein Wachstum bei 27 Prozent Arbeitslosigkeit und ständig steigenden Staatschulden verzeichnen. Die Schulden stiegen von 27,8 Prozent des BIP im Jahr 2008 auf 53,1 Prozent im letzten Jahr. Das Land droht in die Schuldenfalle zu geraten. Die Schuldentilgung, der am stärksten wachsende Haushaltsposten, frisst schon 10 Prozent der gesamten Staatsausgaben. Der Südafrika-Bericht des BTI hält fest: „Seit der Verabschiedung des Nationalen Entwicklungsplans im Jahr 2010 ist das Land dem darin festgelegten Ziel von 5,4 Prozent Wirtschaftswachstum, mit dem bis 2030 die Armut beseitigt und die Ungleichheit reduziert werden sollte, nie auch nur nahegekommen. 2015 betrug die Jahreswachstumsrate des BIP dürftige 0,5 Prozent.“
Familiengebundener und ethnischer Nepotismus grassieren in Südafrika bis hinauf zum früheren Präsidenten Jacob Zuma, der auf Staatskosten sein privates Anwesen renovieren ließ. Das Land ist nach wie vor ethnisch gespalten, laut BTI-Bericht existiert „wenig Vertrauen zwischen den historisch definierten ethnischen Gruppen des Landes. (…) Die meisten Südafrikaner leben noch immer in ethnisch homogenen Wohngebieten.“ Darüber hinaus legen schwarze Afrikaner, die sich in verschiedenste Ethnien aufspalten, immer häufiger „latent xenophobe Haltungen“ in Angriffen auf andere afrikanische Migranten an den Tag. Südafrikas BTI-Wert für Demokratie ist mit sinkender Achtung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit von 8,7 von 10 möglichen Punkten im Jahr 2006 auf jetzt 7,6 Punkte geschrumpft.
Auch die Abwanderung ist hoch in Südafrika. Viele weiße qualifizierte und ausgebildete Bürger verlassen das Land, um Kriminalität und Missstände hinter sich zu lassen und woanders nach besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten zu suchen. Auf wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ebene kommt Südafrika nicht voran: Es mag in Afrika ein einflussreicher Akteur bleiben, ist aber nicht länger ein Vorbild für andere.
Die russische Wirtschaft erstarrt
Bleiben noch Russland, Indien und China – drei Nationen, die danach streben, Großmächte zu sein. Mit der militärischen Unterstützung des syrischen Präsidenten Bashar Al-Assad, der Annektion der Krim und der Unterstützung ostukrainischer Seperatisten setzt die russische Außenpolitik immer stärker auf Konfrontation mit dem Westen. Westliche Sanktionen zeigen moderate Wirkung auf die Wirtschaft des Landes.
Das wirtschaftliche Wachstum stagniert, obwohl der Kreml auf makroökonomischer Ebene beeindruckende Disziplin zeigt. Trotz Rezession liegt die Staatsverschuldung bei nur 12,6 Prozent des BIP und die Arbeitslosigkeit ist mit 4,7 Prozent niedrig. Der russische Kurs scheint in absehbarer Zeit sowohl wirtschaftlich als auch politisch nachhaltig zu sein. Der BTI-Länderbericht Russland merkt dazu an: „Bislang haben russische Regierung und Bevölkerung die Schwierigkeiten bewältigt. Beide scheinen sich darauf verständigt zu haben, dass Russland als größtes Land der Erde nur als eigenständige Macht überleben kann und weder Teil der EU oder Mitglied der NATO werden noch zu enge Verbindungen mit China eingehen sollte.“
Auch wenn Russland mit Einschränkungen noch eine Wahldemokratie ist, fühlen sich russische Bürger demokratischen Werten und Prozessen nur wenig verbunden. Darüber hinaus stellt der BTI-Bericht fest, dass „eine Radikalisierung nationalistischer Tendenzen in der russischen Gesellschaft“ zu beobachten sei. „Aufgrund der Entwicklungen in der Ukraine und dem Ausmachen einer fünften Kolonne unter liberalen und westlich orientierten Intellektuellen sind Menschenrechtsaktivisten ins Abseits gedrängt worden und Spannungen innerhalb der russischen Gesellschaft nehmen zu.“
Die internationale öffentliche Meinung über Russland geht stark auseinander. Der Westen steht dem Land sehr kritisch gegenüber, während Indien und China sehr viel wohlwollender sind.
Indien im Aufwind
Schauen wir auf Indien und China, die mit Abstand größten BRICS-Staaten. Indien kann sich über eine moderat hohe Wachstumsrate von 6,7 Prozent im letzten Jahr freuen. Die Mittelklasse vergrößert sich, die Armut nimmt ab. Premierminister Narendra Modi, ein Hindu-Nationalist, der seit 2014 im Amt ist, erfreut sich weiterhin großer Beliebtheit. Die Hindu-Mehrheit bestimmt zunehmend die öffentliche Meinung auf Kosten der vielen anderen ethnischen Minderheiten des Landes, obwohl die Hindus aufgrund der Geburtsraten der Muslime tatsächlich zahlenmäßig langsam abnehmen. Ihr Anteil an der Bevölkerung betrug 1951 84 Prozent, 2011 waren noch 80 Prozent der Inder Hindus.
Der BTI-Länderbricht für Indien stellt fest: „Seit 2014 und auch in dem in diesem Bericht untersuchten Zeitraum ist die Bereitschaft der politischen Führung solche strukturellen Konflikte zu entschärfen deutlich zurückgegangen.“ Die Autoren halten es dennoch für unwahrscheinlich, dass Indien an seiner Diversität zerbrechen könnte, schon weil die Bevölkerung zu zersplittert sei und es einfach zu viele verschiedene Gruppen gäbe: „Dass keine größeren gewalttätigen Konflikte ausgebrochen sind, liegt weniger an entpolarisierenden Maßnahmen politischer Akteure als vielmehr an der Vielzahl an Trennungslinien, die sich zumeist nicht überschneiden und somit der Bildung großer oppositioneller Lager entgegenwirken.“
Aus diesem Grund wird Indiens wirtschaftliche und politische Bedeutung in den kommenden Jahren vermutlich ständig steigen und zur Bedeutung des asiatischen Kontinents im globalen System beitragen. Gemessen am nominalen BIP ist die Wirtschaft Indiens schon größer als die Italiens und wird aller Voraussicht nach auch Frankreich und Großbritannien bald überholen.
Das schwindelerregende Wachstum Chinas
China ist in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme unter den Ausnahmen. Es ist die einzige echte Einparteiendiktatur der BRICS-Staaten. Der BTI-Länderbericht China stellt paradoxerweise fest: „Die Regierung nahm sich weiter verantwortungsvoll einem breiten Spektrum sozialer Belange an und verstärkte seine Bemühungen, öffentliche Dienstleistungen zu verbessern. Gleichzeitig hat die Regierung die Schrauben noch weiter angezogen und unterbindet jede Form von Dissens.“ China zeichnet sich durch eine kompetente Regierung aus, die keinerlei bürgerlichen und politischen Rechte gewährt, sowie durch eine atemberaubend schnelle sozioökonomische Entwicklung.
In mancherlei Hinsicht hat China die Europäische Union und die Vereinigten Staaten wirtschaftlich bereits überflügelt. Wenn das Konvergenzziel strikt weiterverfolgt und zum Beispiel ein Lebensstandard wie in Südkorea erreicht wird, dann wird der Riese Asiens wirtschaftlich stärker sein, als die gesamte westliche Welt zusammengenommen. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei Chinas ungewöhnlich eindrucksvolle Leistungsfähigkeit auf dem Gebiet der Innovation und Technologie. Dazu hält der BTI-Länderbericht fest: „Der Bereich Forschung und Technologie ist in China recht fortgeschritten und verbessert sich weiter. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung als Anteil am BIP stiegen von 0,6 Prozent 1995 auf 2,1 Prozent 2015 und liegen damit heute höher als in Europa.“
An die ethno-religiösen Trennlinien, die Indien durchziehen, reich China mit seiner überwiegend aus Han-Chinesen bestehenden Bevölkerung, die in zunehmendem Maße Mandarin als vorherrschende Sprache benutzen, bei Weitem nicht heran. All das legt nahe, dass China seine Führungsrolle im 21. Jahrhundert behaupten wird.
Historische Chance der BRICS-Länder
Diese kurze Analyse vermittelt einen Einblick in die sehr unterschiedlichen Verläufe der BRICS-Staaten, die geprägt werden von ihrer jeweils eigenen Geschichte und Kultur, vom aktuellen Stand der Entwicklung und vom Niveau des Humankapitals.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Brasilien und Südafrika so sehr mit Schwierigkeiten und inneren Auseinandersetzungen zu kämpfen haben, dass sie sich kaum zu einflussreichen internationalen Akteuren entwickeln werden. Russland wir in Eurasien weiter eine bedeutende Rolle spielen, während Indien und besonders China an Wohlstand, Macht und Einfluss weiter zulegen werden. Diese Situation wirft die Frage auf, was die BRICS-Länder eigentlich noch zusammenhält. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit muss sich erst noch zeigen, ob sie effizienter werden und sich weiter entwickeln kann.
Ausschlaggebend dafür ist vermutlich wieder China. Das Land pflegt enge Beziehungen zu Russland und verfolgt die Integration der wirtschaftlichen Region Asien. Chinas Beziehungen zu anderen asiatischen Nachbarn, wie Japan, Vietnam oder Indien, sind jedoch im Allgemeinen belastet. Im BTI-Ranking sank Chinas Wert für regionale Zusammenarbeit von 8 von 10 möglichen Punkten 2010 auf nur noch 5 Punkte in 2018.
Die Situation ist günstig für die BRICS-Länder und China. Die Europäische Union ist in einer inneren Krise gefangen und in den Vereinigten Staaten gibt es Bestrebungen, sich aus dem Weltgeschehen zurückzuziehen. Die Zeit wird zeigen, ob die BRICS-Staaten diese Chance nutzen können und ihren Führungsanspruch ausbauen werden.
Craig James Willy ist ein auf EU-Angelegenheiten spezialisierter Journalist.
Aus dem Englischen übersetzt von Karola Klatt.