Ein Jahr nach der Präsidentschaftswahl in Tunesien – Ein Blick auf die Szenarien
Im Oktober 2024 wurde Präsident Kais Saied, nach einem Wahlkampf, in dem Oppositionskandidaten mundtot gemacht und eine unabhängige Wahlaufsicht effektiv blockiert wurde, in einem streng überwachten politischen Umfeld wiedergewählt. Damals veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung einen Artikel, in dem zwei mögliche Szenarien für die zukünftigen Beziehungen zwischen Tunesien und der EU skizziert wurden: eines der zunehmenden Autoritarismus und Isolation, und eines fortgesetzter autoritärer Herrschaft, begleitet von selektiven Verbesserungen in Regierungsführung und wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Wo stehen wir nun, fast ein Jahr später?
Ein Punkt aus der damaligen Analyse bedarf der Korrektur: Der plötzliche Anstieg von 700.000 registrierten Wählern vor der Wahl – viel diskutiert, aber von der Wahlkommission ISIE nicht erklärt – resultierte aus einer Gesetzesänderung, die eine automatische Registrierung von 18-Jährigen einführte. Dies ist relevant, da es die Wahlbeteiligung verzerrt, die historisch niedrig erschien. Tatsächlich konnte Saied seine stabile Unterstützerbasis weitgehend halten, insbesondere außerhalb der urbanen Elite – dieser Fakt wird in der akademischen Analyse oft übersehen.
Der „Autoritäre Weg“: Saieds selbstbewusster Marsch zur absoluten Kontrolle
Schon im Vorfeld der Wahl war klar, dass Saieds neue Amtszeit einen weiteren Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung bedeuten würde. Im April 2022 hatte Präsident Saied die ISIE umstrukturiert und alle sieben Mitglieder selbst ernannt. Vor der Wahl schloss die ISIE rechtswidrig 14 Kandidaten vom Rennen um die Präsidentschaft aus – eine Entscheidung, die das Verwaltungsgericht, das höchste Gericht Tunesiens und einzig zuständig für Kandidatenfragen, aufhob. Doch die ISIE ignorierte das Urteil, was Saieds Wiederwahl effektiv absicherte. Nur wenige Tage vor der Abstimmung wurde Ayachi Zammel, einer von Saieds zwei verbliebenen Konkurrenten, inhaftiert. Dieser Zusammenbruch der Kontrollmechanismen spiegelt sich im BTI 2024 wider, wo Tunesien bei „Freien und fairen Wahlen“ nur 4 von 10 Punkten erhält. Im BTI 2026* fällt dieser Wert weiter auf nur 2 von 10 – ein klares Zeichen für den beschleunigten Verfall der Wahlintegrität und demokratischer Aufsicht.
Schrumpfender zivilgesellschaftlicher Raum und der Abbau der Meinungsfreiheit
Zivilgesellschaft und Medien stehen unter massivem Druck, und führende Oppositionsfiguren und Aktivisten sitzen im Gefängnis oder wurden zum Schweigen gebracht. Unter ihnen bekannte Persönlichkeiten wie die renommierte Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensredine und die Anwältin Sonia Dahmani – letztere wurde verhaftet und ihre Familienangehörigen später wegen öffentlicher Forderungen nach ihrer Freilassung verurteilt.
Politische Diskussionen im öffentlichen Raum sind selten geworden; Kulturveranstaltungen werden oft von Zivilpolizisten besucht und ein Klima der Angst hat sich ausgebreitet, in dem sensible Themen nur noch im Flüsterton angesprochen werden. Im Zentrum dieser Repression steht das Dekret 54, insbesondere der umstrittene Artikel 24. Diese Bestimmung kriminalisiert die Verbreitung sogenannter „Falschinformationen“ im Internet, wenn angenommen wird, dass Schaden entsteht – ohne Nachweis eines tatsächlichen Schadens. Obwohl der Gesetzgebungsausschuss des Unterhauses im Juli 2025 mit der Überprüfung dieses Gesetzes begann, bleibt dessen Verfassungsmäßigkeit stark zweifelhaft. Der Artikel verstößt klar gegen grundlegende verfassungsrechtliche Prinzipien, da er vermutete Absicht bestraft und Staatsanwälten weitreichende Ermessensbefugnisse einräumt. Entsprechend verzeichnet der BTI 2026 einen weiteren Rückgang sowohl bei der Meinungsfreiheit als auch bei den Versammlungs- und Vereinigungsrechten – jeweils nur noch 4 von 10 Punkten, nach 5 Punkten im BTI 2024. Dieser Abbau wird auch durch andere internationale Pressefreiheitsrankings bestätigt.
Justiz auf Eis: Unterdrückung von Dissens und Verfolgung von Minderheiten
Ein ähnliches Muster von Rechtsüberschreitungen und Exekutiveingriffen zeigt sich in der sogenannten „Staatsstreich-Affäre“ (Affaire du complot contre l’État), die zum Symbol für die autokratische Machtausweitung geworden ist. Seit Anfang 2023 führt die Regierung eine Verhaftungswelle gegen Oppositionspolitiker, Anwälte, Journalisten und Geschäftsleute. Oft unter dem Vorwurf des „Komplotts gegen die Staatssicherheit“ und meist ohne klare Beweise. Prozesse werden wiederholt verschoben oder unter Ausschluss der Öffentlichkeit – oder sogar der Angeklagten – durchgeführt. Die Anklagen bleiben vage und Beobachter sprechen von politisch motivierten Verfahren. Während der BTI 2026 bei den Indikatoren „Gewaltenteilung“ (3 Punkte) und „Unabhängige Justiz“ (4 Punkte) noch keinen weiteren Rückgang zeigt, deuten Entwicklungen in der „Staatsstreich-Affäre“ und anderen weniger bekannten Fällen – in denen Richter politische Entscheidungen aus Angst vor Entlassung meiden und Häftlinge jahrelang in Untersuchungshaft sitzen – auf eine baldige Abwertung hin.
Im Gegensatz dazu ist Tunesiens Wert bei den Bürgerrechten stark gesunken: von 6 auf 3 Punkte, was den Abbau von Schutzrechten für persönliche Freiheit, Rechtsgleichheit und Zugang zur Justiz – sowohl de jure als auch de facto – widerspiegelt.
Über politische Gegner hinaus betrifft dieser Rückschritt auch marginalisierte Gruppen: Die tunesischen Behörden haben ihre Hetze und Repression gegenüber vor allem subsaharischen Migranten verstärkt. Die Rhetorik von „Bevölkerungsaustausch“ ist in gewalttätige Aktionen eskaliert, einschließlich der Zerstörung von Migrantenlagern in Sfax durch Sicherheitskräfte im April 2025. Internationale Organisationen meiden das Thema weitgehend – aus Angst oder Resignation –, doch Tunesien ist für subsaharische Migranten kein sicherer Ort mehr
Fragile Wirtschaft und ausgehöhlte Regierungsstrukturen
Parallel dazu haben sich Tunesiens wirtschaftliche Bedingungen weiter verschlechtert. Der Alltag ist geprägt von schwankenden Preisen für Importwaren, steigenden Lebenshaltungskosten und unsicherem Zugang zu grundlegenden Gütern. Die staatliche Verwaltung funktioniert in vielen Bereichen kaum noch, bedingt durch Saieds fortgesetzte Säuberungen. Dutzende Minister, Generaldirektoren und Gouverneure wurden oft über Nacht und ohne Begründung entlassen. Ein besonders anschauliches Beispiel ist das Gouvernorat Ben Arous, welches innerhalb von 48 Stunden drei verschiedene Gouverneure erlebte – einer davon trat sein Amt nie an. Der Premierminister Kamel Madouri wurde im März 2025 nach weniger als einem Jahr im Amt entlassen und über Nacht durch den Infrastrukturminister ersetzt. Unter Saied sind Schlüsselpositionen im Staat kurzlebig, erratische Kommunikation und undurchsichtige Entscheidungsprozesse treten an die Stelle institutioneller Kontinuität.
Gesellschaft im Überlebensmodus
Für viele Tunesier ist der Alltag inzwischen von individueller Existenzsicherung geprägt – jeder ist zunehmend darauf bedacht, nur noch über die Runden zu kommen. Viele Familien sind auf Überweisungszahlungen von Verwandten im Ausland angewiesen, die 2023 rund 6 % des tunesischen BIP ausmachten. Vertrauen in öffentliche Institutionen ist gering, private Alternativen werden für Gesundheitsversorgung, Bildung und andere zentrale Strukturen zunehmend bevorzugt.
Massenproteste sind selten geblieben, aber es gab Momente kollektiver Wut – am deutlichsten im April 2025, als in der Provinz Sidi Bouzid ein Schulgebäude einstürzte und drei Schüler starben. Die Tragödie löste gewaltsame Proteste und einen Generalstreik in einer Region aus, die seit Langem unter Vernachlässigung leidet. Es war ein symbolisches Echo der Revolution von 2011, die in derselben Region ihren Ausgang nahm. Auch wenn dieser Ausbruch der Wut keine landesweite Erhebung auslöste, machte er die ungelösten Spannungen und potenziellen Zündpunkte im tunesischen Landesinneren deutlich.
Eine Chance für die EU zur Neuausrichtung
Der Fokus der EU hat sich anderen Krisen zugewandt – von Syrien bis Gaza – während Kürzungen, insbesondere nach der Wiederwahl von Donald Trump in den USA, die Unterstützung lokaler Entwicklungsinitiativen schwächten. Viele Tunesier verloren Arbeitsplätze, die an Geberprojekte gebunden waren. Während sich der Autoritarismus vertieft und Tunesien sich stärker nach innen wendet, darf die Zivilgesellschaft nicht allein gelassen werden. Eine erneuerte und glaubwürdige EU-Strategie – basierend auf Vertrauen, Reaktionsfähigkeit und langfristiger Zusammenarbeit – ist jetzt wichtiger denn je.
In den letzten zwei Jahren zielte die Unterstützung der EU für die tunesische Regierung – vor allem getrieben von Italien – hauptsächlich darauf ab, irreguläre Migration einzudämmen, was unbeabsichtigt Saieds populistische und spaltende Narrative verstärkte. Wenn Veränderung kommt, wird sie wahrscheinlich nicht aus den Eliten, sondern aus dem Herzen Tunesiens entstehen – aus den vernachlässigten Regionen, der frustrierten Jugend und widerstandsfähigen Gemeinschaften. Dafür braucht es ein ehrliches Engagement und vor allem einen Dialog auf Augenhöhe. EU-Mitgliedsstaaten sehen sich derzeit aufgrund ihrer ambivalenten und zersplitterten Haltung gegenüber Israel mit besonderem Misstrauen konfrontiert. Dies untergräbt ihre Glaubwürdigkeit und beeinträchtigt ihr Engagement vor Ort. Wollen sie Tunesiens demokratische Kräfte unterstützen, müssen sie Vertrauen zurückgewinnen und jene Kräfte fördern, die echten Wandel herbeiführen können.
Hinweis: Der Bericht zum Ländergutachten, welches die oben genannten Zahlen für den BTI 2026 untermauert, wird Anfang 2026 veröffentlicht.
Zuerst veröffentlicht von Qantara.de