Eskalation ohne Beweise: Die gefährliche Politik grenzüberschreitender Terrorismusvorwürfe
Im April 2025 töteten militante Kämpfer 26 Zivilisten bei einem Terroranschlag in der Nähe der Stadt Pahalgam in Jammu und Kaschmir – ein schwerer Schlag für das von der Modi geführten BJP-Regierung immer wieder kommunizierte Narrativ, dass in der Region wieder Normalität eingekehrt sei. Indien machte Pakistan umgehend für den Anschlag verantwortlich und startete Luftangriffe jenseits der Grenze, die angeblich auf „terroristische Infrastruktur“ abzielten. Die Frage ist nun: Worauf stützte sich dieser Vorwurf? Diese Frage ist umso dringlicher, als die nachfolgenden indischen Ermittlungen zum Pahalgam-Anschlag keine konkreten Beweise für eine pakistanische Beteiligung zutage förderten. Der begrenzte Konflikt zwischen beiden Ländern führte jedoch zu vier intensiven Kampftagen, bei denen 70 Menschen ums Leben kamen. Die Krise kostete Indien mehrere Kampfflugzeuge und legte gravierende Schwächen in Pakistans Luftabwehr offen. Ein Waffenstillstand wurde schließlich nach der Intervention des US-Präsidenten Donald Trump erklärt.
Der Zustand der Demokratie in Indien und Pakistan
In den letzten Jahren haben Anschuldigungen grenzüberschreitenden Terrorismus’ wiederholt zu militärischen Eskalationen zwischen Indien und Pakistan geführt. Diese oftmals vorschnell erhobenen Vorwürfe verdecken häufig die internen Ursachen für Aufstände. Beide Länder profitieren politisch davon, äußere Feinde zu benennen – das erlaubt ihren Regierungen, von inneren Sicherheitsversagen, ethnischen Spannungen, Autonomiebestrebungen und vor allem vom Rückgang der Demokratie abzulenken. Die ständigen Anschuldigungen destabilisieren die Region. Beide Staaten verfügen über Atomwaffen und standen noch 2019 kurz vor einer nuklearen Eskalation.
Der Bertelsmann Transformationsindex (BTI) beschreibt Indien als eine „defekte Demokratie“ und Pakistan als eine „harte Autokratie“, wobei Indien sich zunehmend der Schwelle zur Autokratie nähert. Zwischen 2022 und 2024 zeigen zentrale Indikatoren unter Modis hindu-nationalistischer Regierung, die seit 2014 an der Macht ist, Stagnation oder Rückschritt. Die demokratische Transformation hat sich seit 2022 im BTI nicht verbessert und ist in mehreren Bereichen sogar gesunken – darunter freie und faire Wahlen (von 8 auf 7 Punkte), effektive Regierungsgewalt (8 auf 7), Bürgerrechte (6 auf 5) sowie Meinungs- und Pressefreiheit (5 auf 4). Der Gesamttrend bleibt abwärtsgerichtet. Subnationale Unterschiede verschärfen dieses Bild zusätzlich.
Zwar genießt der indische Staat allgemein Legitimität, doch wird seine Autorität in Regionen wie Jammu und Kaschmir, Teilen Zentralindiens und dem Nordosten herausgefordert. Die Regierung reagiert dort häufig mit Gesetzen, die den Streitkräften Sonderbefugnisse einräumen. Darüber hinaus haben zivile Akteure, die mit der Rashtriya Swayamsewak Sangh (RSS) und der regierenden BJP verbunden sind, unter Modi an Einfluss gewonnen und fungieren als Vetospieler, um Dissens zu unterdrücken. Die BJP-Regierung hat zudem versucht, Einfluss auf die indische Armee zu nehmen, indem sie gezielt Personalentscheidungen trifft, und hat gleichzeitig verfassungsmäßige Kontrollmechanismen geschwächt. Institutionen wie die Wahlkommission Indiens stehen unter Verdacht, zugunsten der BJP politisiert zu werden, während die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs abgenommen hat. Die Medienaufsicht ist schwach, viele Journalist:innen und Medien übernehmen unkritisch Regierungsnarrative. Diese Erosion demokratischer Kontrolle ermöglicht verantwortungsloses staatliches Handeln.
In Pakistan bleibt das Militär die dominierende Kraft. Noch 2022 setzte es eine gewählte Regierung ab. Die aktuelle Regierung wird vom Militär gestützt, wobei der Premierminister die Militärführung regelmäßig in Fragen der inneren Sicherheit und Außenpolitik konsultiert. Pakistans BTI-Wert 2024 für die effektive Regierungsgewalt demokratischer Akteure liegt bei mageren 3 Punkten. Zivile politische Eliten agieren häufig mit Straffreiheit, Korruption ist weit verbreitet. In aufstandsbetroffenen Regionen dominiert das Militär die Verwaltung, Zivilisten sind außergerichtlichen Tötungen, Folter und dem Verschwindenlassen ausgesetzt. Militärgerichte verurteilen häufig Zivilisten, während Angehörige der Verschwundenen kaum rechtlichen Beistand in Gerichten oder im Parlament finden. Ethnische Minderheiten in Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa sind systematischer Diskriminierung ausgesetzt, und Dissidenten werden regelmäßig auf Grundlage repressiver Gesetze inhaftiert. Statt den Dialog mit benachteiligten Gemeinschaften zu suchen, setzt der pakistanische Staat – angeführt vom Militär – auf Zwang und Unterdrückung.
Glaubwürdigkeit der grenzüberschreitenden Terrorvorwürfe
In den letzten Jahren neigen sowohl Indien als auch Pakistan dazu, sich nach Aufstandsangriffen gegenseitig des grenzüberschreitenden Terrorismus zu beschuldigen – meist, um unabhängige Ermittlungen zu vermeiden und einen patriotischen Schulterschluss im Inland zu erzeugen.
Betrachten wir den jüngsten Pahalgam-Anschlag im von Indien kontrollierten Teil Kaschmirs. Die indische National Investigation Agency (NIA), die für die Untersuchung grenzüberschreitenden Terrorismus zuständig ist, hat die Täter bislang nicht identifizieren können. Die Resistance Front, eine mit der pakistanischen Lashkar-e-Taiba (LeT) – einer von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestuften Gruppe – verbundene Organisation, übernahm zunächst die Verantwortung, zog diese später aber mit der Begründung zurück, ihr Konto sei von indischen Behörden gehackt worden. Am 22. Juni 2025 verkündete die NIA die Festnahme zweier Personen, die die Angreifer beherbergt haben sollen. Diese Verdächtigen behaupteten, die Täter seien LeT-Mitglieder gewesen, was weitreichende Medienspekulationen über eine pakistanische Beteiligung auslöste. Doch bald darauf stellte die NIA klar, dass die Ermittlungen weiterhin ergebnislos seien. Die indische Regierung erklärte später, die Angreifer seien getötet worden, und bezeichnete sie vage als „Ausländer“ – ohne weitere Beweise oder Details.
Eine pakistanische Beteiligung kann nicht ausgeschlossen werden, doch der anhaltende Widerstand gegen die indische Herrschaft, genährt durch Repression und Menschenrechtsverletzungen, befeuert seit langem den bewaffneten Widerstand in Kaschmir. Gewalt ausschließlich als von außen gesteuert darzustellen, dient dazu, lokale Autonomiebestrebungen zu delegitimieren. Solche Kämpfe lassen sich durch Gewalt kaum beenden; im Gegenteil: Die Entscheidung der Modi-Regierung von 2019, Kaschmirs Sonderstatus aufzuheben, löste massive Proteste aus und vertiefte die Ablehnung indischer Herrschaft in der Region.
Selbst in Fällen, in denen Beweise auf eine Beteiligung Pakistans hindeuten, sind lokale Faktoren eng verflochten. Der Pulwama-Anschlag von 2019 ist ein Beispiel: Nach dem Anschlag erhob die NIA Anklage gegen 19 Personen wegen Beihilfe. Zwar hatten einige von ihnen Unterstützung von in Pakistan ansässigen Terrorgruppen erhalten, doch die wichtigsten Helfer waren Over Ground Workers (OGWs) in Kaschmir, die Aufklärung, Unterkünfte und logistische Unterstützung für den Anschlag organisiert hatten.
Der Widerstand gegen die indische Herrschaft in Kaschmir bleibt ein wesentlicher Treiber der Militanz. Indem die indische Regierung Aufstandsgewalt als grenzüberschreitenden Terrorismus darstellt, vermeidet sie, legitime lokale Beschwerden anzuerkennen, und rechtfertigt militärische Maßnahmen – was die Region weiter destabilisiert.
Pakistan wiederum macht ebenfalls externe Akteure – insbesondere Indien – für innere Aufstandsgewalt verantwortlich, vermeidet jedoch in der Regel militärische Eskalation. Ein Beispiel ist der Anschlag auf den Jaffar-Express-Zug am 11. März 2025 in Belutschistan, bei dem 26 Menschen getötet und 40 verletzt wurden, überwiegend Armee- und Paramilitärs sowie Regierungsbeamte. Als Vergeltung töteten pakistanische Sicherheitskräfte 33 Angreifer, die an dem Zugüberfall beteiligt gewesen waren. Die Belutschistan Liberation Army (BLA) bekannte sich zum Anschlag, veröffentlichte ein Video mit der Planung und nannte Unterdrückung, Ressourcenausbeutung und fehlende Autonomie als Motive. Trotzdem machte das pakistanische Militär zunächst indische Geheimdienste verantwortlich, dann Afghanistan. Vier mutmaßliche Helfer wurden festgenommen, weitere Details aber nicht veröffentlicht. Falsche Berichte über die Festnahme eines indischen Spions kursierten, wurden aber nie bestätigt.
Aussichten für Stabilität in Südasien
Indiens zunehmend selbstbewusste Militärpolitik unter Modi und Pakistans vom Militär dominierte Politik tragen weiterhin zu einer Verschlechterung der inneren und regionalen Sicherheitslage bei. In beiden Ländern fehlt es den zentralen Machtzentren an Rechenschaftspflicht in ihren Narrativen über äußere Einflüsse auf Aufstandsangriffe. Ihre Reaktionen scheinen eher auf innenpolitische Gewinne und strategische Machtdemonstration ausgerichtet zu sein als auf objektive Ermittlungen oder nachhaltigen Frieden. Allerdings hat Indien mehr zu verlieren als Pakistan.
Das pakistanische Militär, das ohnehin als aufständisches Machtzentrum gilt, dem gegenüber konventionelle Abschreckung kaum wirkt, erleidet politisch wenig Schaden durch mutmaßliche Beteiligung an grenzüberschreitendem Terrorismus. In Pakistans undemokratischem System können Bürger das Militär oder seine Verbündeten nicht abwählen. Zudem genießt das Land international keinen guten Ruf. Indien hingegen verfügt über erhebliches „Soft Power“-Potenzial – und hat daher mehr zu verlieren. Während Premierminister Modi innenpolitisch durch aggressive Militärpolitik gegenüber Pakistan an Popularität gewinnt, hängen diese Erfolge von der Wahrnehmung von Stärke und Erfolg ab. Indien ist weiterhin eine Demokratie, und gewählte Regierungen unterliegen trotz systemischer Probleme einer gewissen Rechenschaftspflicht. Fehlgeschlagene Angriffe, militärische Rückschläge oder das Fehlen glaubwürdiger Beweise zur Rechtfertigung militärischer Eskalationen untergraben die Glaubwürdigkeit der BJP-Regierung erheblich – insbesondere angesichts wachsender Kritik, dass solche Machtdemonstrationen Indien in Wirklichkeit unsicherer gemacht haben.
Erstveröffentlichung bei Global Policy Journal.