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Índice de Transformación Bertelsmann 2020

Im weltweiten Vergleich weisen Europa und Lateinamerika die höchste Demokratiequalität auf. Gerade hier aber waren im zurückliegenden Jahrzehnt die stärksten politische Regressionen zu verzeichnen. Umso wichtiger ist ein transatlantischer Dialog, um die gemeinsam die Gefährdungen für Partizipation und Rechtsstaatlichkeit zu analysieren und Demokratisierungsstrategien zu entwickeln. Ein wichtiges Instrument hierfür ist der BTI. Dass der Transformationsindex nun schon zum vierten Mal in spanischer Übersetzung vorliegt, verdanken wir der erfolgreichen Zusammenarbeit mit unserem argentinischen Partner CADAL.

Informe BTI 2020: Download der spanischen Übersetzung des Transformationsindex

Um jeweils einen halben Punkt (auf der BTI-Zehnerskala) ist der politische Transformationsstatus sowohl in Lateinamerika wie auch in Ostmittel- und Südosteuropa innerhalb eines Jahrzehnts gesunken – eine beachtliche Einbuße an Demokratiequalität im regionalen Durchschnitt. Obwohl sich die länderbezogenen Transformationsverläufe sowie auch einige spezifische regionale Trends auf beiden Seiten des Atlantiks unterscheiden, so sind doch auffällig viele gemeinsame Krisensymptome sowie ihnen zugrundeliegende Ursachen zu verzeichnen.

In Lateinamerika ist das kontinuierlich absinkende politische Transformationsniveau im Wesentlichen auf drei Ländergruppen zurückzuführen – die Krisenstaaten Haiti und Venezuela, die neuen Autokratien Guatemala, Honduras und Nicaragua sowie die durch Korruption und Drogenkrieg destabilisierten Demokratien Brasilien und Mexiko. Umgekehrt bedeutet dies aber, wie Peter Thiery in seinem Regionalartikel belegt, auch, dass die meisten Demokratien sich als erstaunlich resilient erweisen und keine größeren Einbrüche von Demokratiequalität zu verzeichnen haben. Gleichwohl: der Schutz der Bürgerrechte hat sich im regionalen Durchschnitt deutlich verschlechtert, insbesondere unter den sich verzweifelt an ihre Macht klammernden Regimen in Nicaragua und Venezuela, und ist um fast einen Punkt auf der BTI-Zehnerskala gefallen. Ein knappes Drittel aller lateinamerikanischen Länder wird mittlerweile autokratisch regiert, der Autokratisierungsschub fällt insbesondere in Zentralamerika deutlich aus.

Einige Ursachen – wie beispielsweise die extrem hohe Kriminalität und Gewalt sowie die Drogenproblematik insbesondere in Zentralamerika und Mexiko – sind regionalspezifisch, aber in anderen Aspekten ähneln sich Lateinamerika sowie Ostmittel- und Südosteuropa. Zum einen steigt in vielen Ländern die soziale Ungleichheit an oder verharrt auf hohem Niveau. In Ostmittel- und Südosteuropa spielt dabei eine besondere Rolle, dass das Wohlstandsgefälle zu Westeuropa als gleichbleibend hoch wahrgenommen wird, so dass zur sozioökonomischen Polarisierung innerhalb der Länder und einem ausgeprägten Stadt-Land-Gefälle eine sozioökonomische Marginalisierung innerhalb Europas tritt. In Lateinamerika, von jeher eine der ungleichsten Weltregionen, zeichnete sich aufgrund des Ressourcenbooms der 2000er und frühen 2010er Jahre eine Trendwende ab, die aber auch aufgrund rapide sinkender Rohstoffpreise wieder zunichte gemacht wurde und insbesondere die „prekäre Mittelschicht“ (Thiery) elementar gefährdete. Soziale Mobilität wird noch immer aktiv von den etablierten Eliten behindert, die sich zunehmend aggressiv (wie in Guatemala und Honduras) auch an die politische Macht klammern.

Die Reformunfähigkeit der politischen Eliten wird durch grassierende Korruption und systematischen Amtsmissbrauch besonders ausgeprägt illustriert. In Ostmittel- und Südosteuropa sowie in Lateinamerika (Odebrecht-Skandal, Lava Jato) wurden mehrere Korruptionsskandale aufgedeckt, in die zahlreiche hochrangige Politiker über Jahre verstrickt gewesen waren. Viele Regierungen sperren sich entweder vehement gegen eine systematische Ahndung von Amtsmissbrauch (Guatemala oder Rumänien) oder sie instrumentalisieren sie, indem nur gegen politische Gegner vorgegangen wird (Brasilien oder Ungarn). All diese Entwicklungen haben massive Auswirkungen auf die institutionelle Festigkeit von Demokratien. Von den fünf Demokratiekriterien im BTI hat sich die Stabilität demokratischer Institutionen in Europa und Lateinamerika am stärksten rückläufig gezeigt. Insbesondere das Bekenntnis und die Selbstverpflichtung der politischen Eliten zur Einhaltung und Stärkung demokratischer Prozesse brachen in beiden Regionen ein.

Sozioökonomische Ausgrenzung und das berechtigte Misstrauen gegen die politischen Eliten haben umgekehrt aber auch die Akzeptanz demokratischer Werte, Prozesse und Institutionen in den Bevölkerungen geschwächt. Mit einem Minus von im Durchschnitt rund 0,8 Punkten in beiden Regionen sanken die Zustimmungswerte zu Demokratie sehr deutlich, besonders ausgeprägt in Honduras (-4) und Ungarn (-5). Nicht selten werden demokratische Werte durch religiös-fundamentalistische Dogmen ersetzt, auch dies ein Trend, der sowohl Ostmittel- und Südosteuropa wie auch Lateinamerika ergriffen hat. Autoritäre, traditionelle und hierarchische Werte werden von erzkonservativen Vertretern der katholischen oder orthodoxen Kirche in Europa ebenso propagiert wie von reaktionären evangelikalen Glaubensgemeinschaften in Lateinamerika.

Mangelnde Identifikation mit Demokratie, steigender Einfluss reaktionär-autoritärer Positionen und ein ausgeprägtes Misstrauen gegen die etablierten politischen Eliten steigern die Empfänglichkeit für populistische Demagogen. Deren Wahlerfolge haben wesentlich zur Erosion von Demokratiequalität beigetragen. Sie begreifen ihr Mandat in antipluralistischer Weise als Revolution an den Wahlurnen mit dem Auftrag, den von ihnen definierten „Willen des Volkes“ kompromisslos umzusetzen. Dazu konzentrieren sie sukzessive die Macht in der Exekutive durch Gängelung der Justiz, Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit sowie Manipulation von Wahlen.

Es steht zu befürchten, dass die COVID-19-Pandemie viele der aufgezeigten Negativentwicklungen noch verstärken wird. In Krisenzeiten wächst die Bereitschaft zur Stärkung der Exekutive, und zahlreiche Regierungen sind versucht, ihre Notfallbefugnisse zu verstetigen und die Gewaltenteilung weiter zu schwächen. Die sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie zeichnen sich deutlich in der Zunahme von Armut und Ungleichheit ab und werden die gesellschaftliche Polarisierung noch verstärken.

Die Demokratie steht also unter Druck, sowohl in Lateinamerika wie auch in Europa. Es bedarf einer schonungslosen Analyse bisheriger Fehlentwicklungen und einer detaillierten Studie von Stärken und Schwächen von Transformationsverläufen, um geeignete Strategien zur Stärkung von Demokratie und Menschenrechten zu entwickeln. Viel ist von zivilgesellschaftlichen Organisationen auf beiden Seiten des Atlantiks zu lernen, die sich erfolgreich gegen Korruption (wie in Brasilien und Rumänien) und die Beschneidung von Menschenrechten (wie in Kolumbien oder Polen) oder für eine neue, inklusivere Verfassung (wie in Chile) engagiert haben.

Als besonders fruchtbar hat sich in diesem Zusammenhang ein Demokratiedialog zwischen den beiden noch immer klar demokratisch geprägten Regionen erwiesen. Im transatlantischen Austausch werden Trends noch einmal deutlich sichtbarer, sind Ideen zur Demokratisierung vielfältiger, gewinnt der intellektuelle Austausch zusätzliche Perspektiven. Es war insofern ebenso passend wie bereichernd, zur Veröffentlichung des spanischen BTI 2020 ein Fachgespräch mit europäischen (Hauke Hartmann, Peter Thiery) wie lateinamerikanischen (Liliana de Riz, Patricio Navia) Experten zu veranstalten, das wir hier dokumentieren.

Wir sind froh und dankbar, mit dem Centro para la Apertura y el Desarrollo de América Latina (CADAL) einen ähnlich gesinnten Partner gefunden zu haben, der Transformationsverläufe aus normativem Blickwinkel und mit einer klaren Präferenz für rechtsstaatliche Demokratie verfolgt. Seit nunmehr acht Jahren währt diese außergewöhnliche und intensive Zusammenarbeit. CADAL hat in diesem Jahr bereits zum vierten Mal eine spanische Ausgabe des Transformationsindex veröffentlicht. Erneut gewann CADAL zahlreiche Wissenschaftler und Politiker, die Kernbotschaften des BTI aufgriffen und in Zeitungsbeiträgen und eigenen Analysen verbreiteten. CADAL startete bereits in diesem Sommer zusätzlich eine Serie von insgesamt neun Länderanalysen, die auf den Gutachten des BTI 2020 basierten und vertiefte Auswertungen aus lateinamerikanischer Perspektive anboten.

Dem BTI-Projekt bieten sich durch diese Partnerschaft ganz neue Möglichkeiten, in einen direkten und vor Ort unterstützten Dialog mit Medien, Wissenschaft und Politik in Lateinamerika zu treten. In diesem Zusammenhang ist neben den vielen engagierten Mitarbeitern von CADAL insbesondere Direktor Gabriel Salvia zu danken. Ohne seine Vision und Beharrlichkeit wäre eine solche Kooperation nicht möglich gewesen. Sein demokratischer Internationalismus ist beispielhaft und unabdingbar für einen transatlantischen Demokratiedialog.

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