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President Abdel Fattah el-Sisi, Photo by ΝΕΑ ΔΗΜΟΚΡΑΤΙΑ via flickr.com, CC BY-NC 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Notstand in Ägypten ausgelaufen: Startschuss für eine echte Transformation?

Überraschend wurde der Notstand in Ägypten nicht verlängert. Dies ist jedoch wohl eher ein PR-Stunt als der Anfang vom Ende der harschen Repressionen. In den letzten Jahren hat das Regime eine Situation geschaffen, in der es auch ohne die Nutzung von Notstandsgesetzen Kritiker aller Couleur mundtot machen kann.

Am 8. und 9. November 2021 trafen sich Delegationen aus Ägypten und den USA in Washington, angeführt von den beiden Außenministern. Sie diskutierten im ersten strategischen Dialog seit 2015 die bilateralen Beziehungen der beiden Länder. Nach dem Treffen kritisierten zahlreiche Menschenrechtsorganisationen, dass die amerikanische Seite die massive Einschränkung individueller Freiheiten in Ägypten kaum thematisiert hat. Stattdessen hieß sie die jüngsten Maßnahmen der ägyptischen Regierung in diesem Zusammenhang willkommen, wie die Veröffentlichung einer nationalen Menschenrechtsstrategie im September sowie das Auslaufen des Notstands am 23. Oktober.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob die aktuellen Entwicklungen tatsächlich derart positiv zu bewerten sind. Wie die kontinuierlich sinkenden Werte im Bertelsmann Transformationsindex (BTI), insbesondere bezüglich der politischen Transformation und im Bereich Governance, zeigen, wird Ägypten seit dem Militärputsch 2013 immer autoritärer regiert. Beobachter:innen sind sich einig, dass Notstandgesetze Repressionen erleichtern und dass das Regime sie nicht nur gegen Terrorist:innen angewendet hat, sondern gegen Kritiker:innen aller Couleur. Läutet nun also das Auslaufen des Notstands eine Trendwende ein?

Notstandsgesetze beschneiden Freiheiten und Rechte

Am 25. Oktober 2021 hat Präsident Abdelfattah al-Sisi verkündet, dass er den bestehenden nationalen Notstand nicht verlängern wird. Dies kommt überraschend, zahlreiche Beobachter:innen hatten erwartet, er würde erneut zum Dauerzustand. Grund zu der Annahme bestand, hatte doch Hosni Mubarak, Ägyptens autoritärer Machthaber von 1981 bis 2011, seine komplette Amtszeit mithilfe von Notstandsgesetzen regiert, bevor der Notstand im Mai 2012 auslief. Nach Anschlägen auf Sicherheitskräfte im Oktober 2014 wurde der Notstand jedoch im nördlichen Sinai wieder ausgerufen und nach zwei Terroranschlägen auf koptische Kirchen im April 2017 schließlich in ganz Ägypten. Seither wurde er alle drei Monate verlängert, bis zum 23. Oktober.

In Zeiten des Notstands werden Freiheiten eingeschränkt und Sicherheitskräfte erhalten zahlreiche zusätzliche Befugnisse. So dürfen sie beispielsweise Verdächtige ohne Haftbefehl in Verwahrung nehmen, Versammlungen auflösen, private Kommunikation abhören und Medieninhalte zensieren – alles weitgehend ohne juristische Aufsicht. Die Kompetenzen des Präsidenten werden ebenfalls stark erweitert und er darf unter anderem Ausgangssperren verhängen und Sperrgebiete einrichten.

Ein weiteres Element ist die Nutzung außerordentlicher Notstand-Staatssicherheitsgerichte. Neben zivilen Richter:innen sitzen in den Tribunalen auch ranghohe Militärs. Verfahrenstechnische Rechte sind stark eingeschränkt und die Unabhängigkeit dieser Gerichte beschränkt. Der Präsident ernennt Richter:innen und kann Wiederaufnahmeverfahren einleiten. Urteile sind erst gültig, wenn der Präsident sie bestätigt und Verurteilte können keine Berufung einlegen. Aufgrund eines Dekrets aus dem Jahr 2017 werden unterschiedlichste Tatbestände vor außerordentlichen Notstand-Staatssicherheitsgerichten verhandelt, wie Verstöße gegen das Anti-Terror-Gesetz, aber auch Verstöße gegen das Demonstrationsgesetz und sogar Verletzungen der Bauordnung.

Zunahme repressiver Gesetze schränkt die Freiheitsrechte weiterhin stark ein

Seit 2013 wurden zahlreiche Gesetze erlassen, die auch ohne den Notstand die Unterdrückung jeglicher Opposition ermöglichen. So verbietet das Demonstrationsgesetz (2013) faktisch Straßenproteste und das NGO-Gesetz (2017/2019) beinhaltet scharfe Restriktionen für zivilgesellschaftliches Engagement. Das Gesetz über terroristische Vereinigungen (2015) hat es den Sicherheitsbehörden ermöglicht, tausende Kritiker:innen auf Terror-Listen zu setzen, was unter anderem zu Ausreiseverboten und Vermögenseinfrierungen führt. Das Anti-Terror-Gesetz (2015) ist bewusst äußerst vage gehalten, so dass es faktisch gegen alle Kritiker:innen angewendet werden kann. Auch gewährt es dem Sicherheitsapparat ähnliche Befugnisse wie die Notstandsgesetze, wie beispielsweise das Recht Personen ohne Haftbefehl festzunehmen.

Am 31. Oktober, nur wenige Tage nach dem Auslaufen des Notstands, stimmte das Parlament erneut einer Reihe von Gesetzesänderungen zu. Modifikationen am Anti-Terror-Gesetz erlauben es dem Präsidenten nun eigenständig Ausgangssperren zu verhängen und Haftstrafen anzuordnen. Die Strafprozessordnung stellt in Zukunft jegliche Informationsbeschaffung über die Streitkräfte unter Strafe, die ohne vorherige Genehmigung vom Verteidigungsministerium durchgeführt wird.

Am 2. Oktober hat al-Sisi vom Anti-Terror-Gesetz Gebrauch gemacht und dem Verteidigungsministerium per Dekret uneingeschränkte Vollmachten im Nordsinai erteilt, was auch die Verhängung regionaler Ausgangssperren und die Anordnung von Zwangsräumungen gestattet. Laut der Sinai Foundation for Human Rights stellt dies eine faktische Verlängerung des Notstands unter anderem Namen dar.

Sondergerichte sind aufgehoben, aber die Justiz bleibt abhängig

Dass von nun an keine neuen Verfahren mehr vor außerordentlichen Notstand-Staatssicherheitsgerichten eröffnet werden können ist sicherlich positiv zu bewerten. Jedoch bleiben alle bereits gefällten Urteile bestehen. Dies betrifft zahlreiche prominente Fälle, wie den des Studenten Ahmed Samir Santawy, der wegen angeblicher Verbreitung von Falschmeldungen im Juni zu vier Jahren Haft verurteilt wurde.

Verfahren, die bereits eröffnet wurden, werden weiterhin an außerordentlichen Notstand-Staatssicherheitsgerichten verhandelt. Laut Amnesty International wurden alleine in den letzten drei Monaten Verfahren gegen mindestens 20 Menschenrechtsverteidiger:innen und Oppositionspolitiker:innen eingeleitet, mutmaßlich um sie noch von diesen Sondergerichten verurteilen lassen zu können. Dies betrifft beispielsweise die Fälle des Aktivisten Patrick Zaky, des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Abdel Moneim Abul Futuh und des Bloggers Alaa Abd El Fattah.

Auch wird die Justiz weiterhin nicht unabhängig arbeiten können, da sie seit 2013 unter immer striktere Kontrolle gestellt wurde. Beispielweise erhielt der Präsident durch die Verfassungsänderung 2019 die Kompetenz, die Leitung der wichtigsten Gerichte sowie der Staatsanwaltschaft zu ernennen. Damit wurde die Praxis beendet, dass Ägyptens höchste Gerichte ihre Leitung selbst bestimmen. Darüber hinaus wurde ein neues Gremium in die Verfassung aufgenommen: der Oberste Rat für Justizbehörden. Dieser wird vom Präsidenten geleitet und regelt unter anderem Versetzungen und Beförderungen.

Außerdem wurden die  Zuständigkeitsbereiche von Militärgerichten seit 2013 deutlich erweitert. Durch ein Präsidialdekret wurden beispielsweise 2014 öffentliche Einrichtungen und Infrastruktur unter die Kontrolle des Militärs gestellt. Die ursprünglich dafür vorgesehene zeitliche Beschränkung wurde durch die jüngsten Gesetzesänderungen am 31. Oktober gestrichen. Im Zuge der Verfassungsänderung 2019 wurde bestimmt, dass sich alle Zivilisten, denen ein Angriff auf militärische Einrichtungen vorgeworfen wird, vor Militärgerichten verantworten müssen. Schließlich hat das Militär seine wirtschaftlichen Aktivitäten deutlich ausgebaut und alle vom Militär geleitete Unternehmen unterstehen der Militärgerichtsbarkeit. Durch die stetig erweiterten Zuständigkeiten werden mittlerweile jährlich tausende Zivilisten von Militärgerichten verurteilt.

PR-Stunt statt Neubeginn

Das Ende des Notstands alleine stellt somit nicht den Eintritt in eine neue Phase der Transformation dar. Den Sicherheitsbehörden und dem Präsidenten werden zwar einige Kompetenzen entzogen und außerordentliche Notstand-Staatssicherheitsgerichte werden abgeschafft. Ein Ende der harschen Repressionen ist jedoch nicht zu erwarten. In den letzten Jahren hat das Regime die Grundlagen geschaffen, auch ohne Notstandsgesetze gegen Kritiker:innen vorgehen zu können. Dementsprechend weist Human Rights Watch darauf hin, dass die Menschenrechtslage sich ohne weitere Maßnahmen, wie zum Beispiel das Überarbeiten repressiver Gesetze oder die Freilassung politischer Gefangener, nicht verbessern wird. Aktuell deutet jedoch nichts darauf hin, dass derartige Schritte geplant sind, wie die jüngsten Gesetzesänderungen und Anklagen gegen Menschenrechtsverteidiger:innen und Oppositionspolitiker:innen zeigen.

Zahlreiche Beobachter:innen verstehen das Ende des Notstands somit eher als PR-Stunt und als Signal des Entgegenkommens gegenüber den USA und der EU. Tatsächlich ist das Image Ägyptens aufgrund der fatalen Menschenrechtslage schlecht. Auch wenn dies bisher kaum Konsequenzen für die internationale Zusammenarbeit nach sich zog, so stören Defizite in diesem Bereich die bilateralen Beziehungen. In den USA wurde in den letzten beiden Jahren erstmals ein (kleiner) Teil der jährlichen Militärhilfe von 1,3 Mrd. Euro an die Einhaltung von Menschenrechten gekoppelt. Mit Handlungen, die als Fortschritte im Bereich der Menschenrechte verkauft werden, kann das Regime hier punkten, wie beim strategischen Dialog mit den USA sichtbar wurde.

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