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Protests against the Iranian government, © Mumpitz – stock.adobe.com

Iran: Warum sich der revolutionäre Prozess fortsetzen wird

Seit letztem September gibt es im Iran landesweite Proteste, die einen Regimewechsel fordern. Im Winter haben die Straßenproteste nachgelassen, doch nun scheint der revolutionäre Prozess wieder an Dynamik zu gewinnen. Angeheizt wird er von den verheerenden sozioökonomischen und politischen Krisen, die das Regime nach wie vor nicht bewältigen kann.

Die Islamische Republik Iran leidet unter akuten politischen und sozioökonomischen Krisen, deren Auswirkungen die Stabilität und sogar das Überleben des Regimes gefährden. In ihrer Folge häuften sich im vergangenen Jahrzehnt immer radikaler werdende landesweite Proteste, so um die Jahreswende 2017/18, im November 2019 und seit Mitte September letzten Jahres. Die riesige Kluft zwischen Staat und Gesellschaft vergrößern zudem ernsthafte ökologische sowie soziokulturelle Krisen. Mit den Aufständen 2017/18 begann ein langfristiger revolutionärer Prozess im Iran, wie ihn die arabische Welt seit 2010/11 erlebt. An den regimefeindlichen Protesten, die im letzten Jahr ausbrachen, beteiligten sich zum ersten Mal unterschiedliche Gesellschaftsschichten – eine qualitative Veränderung im Vergleich zu früheren Aufständen. Somit stellen diese Proteste eine echte Bedrohung für das Regime dar.

Ein Blick auf wesentliche politische und sozioökonomischen Indikatoren zeigt, inwieweit Krisen den Weg für die revolutionären Proteste bereitet haben, die das Land seit dem tragischen Tod von Mahsa „Jina“ Amini im September erfassen. Das sind zum einen die politische Krise – um sie geht es vor allem –, und zum anderen die sozioökonomische Krise aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage. Wesentlich ist, dass beides Strukturkrisen sind und somit eng mit der politisch-wirtschaftlichen Verfassung und (Fehl-)Leistung des Regimes im Zusammenhang stehen.

Die politische Krise: Politischer Wandel und Regierungsführung

Die politische Krise geht darauf zurück, dass es quasi unmöglich ist, die Islamische Republik Iran von innen zu reformieren. Das Regime hält den politischen Autoritarismus aufrecht, wodurch dem politischen Wandel Grenzen gesetzt sind. Die Unreformierbarkeit ist insbesondere dem Reformflügel des Establishments, aus dem die meisten iranischen Nachkriegspräsidenten stammten, anzulasten. Sie haben offenkundig versagt, dringend benötigte Reformen herbeizuführen oder voranzutreiben. Deshalb richtete sich der Volkszorn mit den Protesten 2017/18 auf die Reformer des Regimes, die sogenannten Gemäßigten. In den Augen der Bevölkerung hatten sie ihre Legitimität eingebüßt, da die Hoffnung auf Reformen innerhalb der Islamischen Republik unwiderruflich begraben schien. Die schlechte Leistung der Regierung unter Hassan Rouhani, der vom Reformflügel der Elite unterstützt wurde, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die tiefe Desillusionierung der Bevölkerung gegenüber der gesamten politischen Elite – der Hardliner wie der Reformer – zeigte sich in der geringen Beteiligung an den Parlamentswahlen im Februar 2020 und den Präsidentschaftswahlen im Juni 2021. In beiden Fällen setzte sich das konservative Lager durch. Seit anderthalb Jahren hat der ultrakonservative Ebrahim Raisi die Präsidentschaft inne und es ist angesichts seiner Machtfülle unwahrscheinlich, dass die Hardliner, die die Ressourcen kontrollieren, etwas zum Wohle der vielen Iraner tun werden, die um ihr Auskommen kämpfen. Die sozioökonomische Abwärtsspirale des Landes führt weiter bergab.

Die Islamische Republik hat eines der repressivsten und autoritärsten Systeme weltweit: die Frauen-, die Studenten- und die Arbeiterbewegung (die zusammen das Rückgrat der iranischen Zivilgesellschaft bilden) werden unterdrückt, die Menschenrechtsbilanz ist düster, Versammlungs- und Pressefreiheit gibt es nicht und vieles andere mehr. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Bertelsmann Transformation Index (BTI) 2022 das Land als „hard-line autocracy“, als strikte Autokratie, bezeichnet und im weltweiten Demokratieranking auf Platz 11 von unten verortet – etwas schlechter als der Sudan und kaum besser als Saudi-Arabien oder Syrien.

Am schlechtesten schneidet das Land in Bezug auf die Regierungsführung – die beim BTI unter anderem unter Berücksichtigung von Steuerungskapazität, Ressourceneffizienz, Konsensbildung und internationaler Zusammenarbeit definiert wird – ab. Hier belegt der Iran den sechstschlechtesten Rang und wird in die Kategorie „gescheiterte“ Regierungsführung einordnet – sogar der Südsudan und Libyen liegen weiter vorn. Dieses schlechte Abschneiden spiegelt wider, was die iranische Gesellschaft plagt: Inkompetenz und Korruption der Elite.

Die sozioökonomische Krise

Die verheerende sozioökonomische Krise im Iran ist offenkundig das Ergebnis der ideologisch geprägten politischen Ökonomie des Regimes, das Oligarchen und Regimetreue begünstigt sowie in seiner Politik die brennende soziale Frage ausblendet. Bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wurde der Iran in die schlechteste Kategorie zurückgestuft und rangiert nun auf Platz 13 von unten, fast gleichauf mit dem von den Taliban regierten Nachbarland Afghanistan und schlechter als der andere unmittelbare Nachbar Irak. In den letzten zehn Jahren hat sich die Armut im Iran erheblich ausgeweitet und große Teile der Mittelschicht erfasst, ein Prozess, der durch Stagflation begünstigt wurde, das heißt eine stagnierende Wirtschaft mit hohen Inflationsraten, die schon über 50 Prozent lagen.

Der Iran befindet sich nicht nur beim BTI 2022 durchgängig auf den untersten Rängen, sondern überall im internationalen Vergleich. Wut und Frustration, die aus diesen strukturellen wirtschaftlichen und politischen Krisen resultieren, führten in den Jahren 2021 und 2022 schon zu 4.000 Protestaktionen (dokumentiert vom Armed Conflict Location and Event Data Project), bevor die „revolutionäre Episode“ (so Asef Bayat, ein führender Wissenschaftler für soziale Bewegungen im Nahen Osten) im vergangenen September begann.

Der langfristige revolutionäre Prozess setzt sich fort

In der gegenwärtigen Protestwelle stehen vier Gruppen im Vordergrund: Frauen, Jugendliche, Studenten und marginalisierte Ethnien. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle sozioökonomisch und in hohem Maße auch politisch und soziokulturell unverhältnismäßig stark leiden.

Derzeit befindet sich der revolutionäre Prozess im Iran in einer Pattsituation. Weder das Regime noch die Demonstranten sind in der Lage, den jeweils anderen ein für alle Mal zu besiegen. In diesem Winter haben die Straßenproteste – mit Ausnahme der Demonstrationen nach den Freitagsgebeten in der südöstlichen Provinz Sistan und Belutschistan – deutlich abgenommen. Gründe dafür sind wahrscheinlich die Repressionen und das saisonal kalte Wetter. Dennoch finden nach wie vor Streiks statt.

Vermutlich werden die Iraner im kommenden Frühjahr wieder häufiger auf den Straßen protestieren, nicht zuletzt angesichts des beispiellosen Wertverlusts der Landeswährung und einer Inflationsrate von über 50 Prozent. Doch die Vergangenheit hat gezeigt, dass Proteste, die sozioökonomische Ursachen haben, oft schnell zu politischen und regierungsfeindlichen Aktionen werden. Mit anderen Worten: Der revolutionäre Prozess dürfte sich fortsetzen, denn die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft scheint unüberwindbar angesichts eines unreformierbaren Regimes, das nicht in der Lage – oder nicht willens – ist, auf die wichtigsten Bedürfnisse der Gesellschaft einzugehen.

 

Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.

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