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Olympic flag and South Korean flag. Photo by Anja Johnson via Wikimedia Commons.

Von Pjöngjang nach Pyeongchang: Friedliche Olympiade im Zeichen des Tauwetters

Am 9. Februar werden die XXIII. Olympischen Winterspiele in Pyeongchang eröffnet. Damit wird Südkorea 30 Jahre nach den Sommerspielen in Seoul das erste vom Bertelsmann-Transformationsindex (BTI) untersuchte Land sein, das sowohl Sommer- wie auch Winterspiele ausgerichtet haben wird. Wir verbinden den Faktencheck für Olympia 2018 mit einem Streifzug durch Kriterien und Indikatoren unseres Index, der im März veröffentlicht wird.

 

Kriterium 2 – Politische Partizipation (8,3 von 10 Punkten): Pünktlich zu den Olympischen Spielen zeigt sich die Demokratie Südkoreas von ihrer besten Seite. Das hat im Vorfeld von Seoul 1988 schon einmal wunderbar geklappt. Der innere und äußere Druck vor den bevorstehenden Olympischen Spielen von Seoul 1988 zwang die regierenden Generäle, 1987 die ersten freien und fairen Wahlen abzuhalten. Gewiss, nicht alleine der olympische Gedanke hat dazu beigetragen. Sicher haben geschicktes politisches Management der Oppositionsführer, politisches Versagen der herrschenden Elite und externe Zwänge durch die US-Regierung auch eine gewisse Rolle gespielt. Und heute? Trotz gewisser Vorbehalte bei der Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit zählt Südkoreas Demokratie zu den partizipativsten in ganz Asien.

Kriterium 3 – Rechtsstaatlichkeit (8,3 Punkte): Schon bevor die ersten Medaillen in Pyeongchang vergeben werden, gab es einen klaren Sieg für Südkoreas Demokratie. Die Gewaltenteilung ist in den letzten anderthalb Jahren auf eine echte Bewährungsprobe gestellt worden – und hat sich als belastbar erwiesen: Parlament und Oberster Gerichtshof warfen im letzten Jahr die korrupte Präsidentin Park Geun-hye aus dem Amt. Nach den Spielen im Unrechtsstaat Russland – Sotschi 2014 – und einem im Korruptionssumpf versinkenden Brasilien – Rio 2016 – finden nun also endlich wieder Spiele in einem Rechtsstaat statt, der diesen Namen auch verdient.

Indikator 5.4 – Sozialkapital (7 Punkte): Einen gehörigen Anteil am vorzeitigen Regierungsende Parks hatte die dynamische Zivilgesellschaft, die Ende 2016 mit wöchentlichen Massenprotesten (allein am 3. Dezember 2016 gingen 2,3 Millionen Koreaner gegen Park auf die Straße) den höchsten Richtern Druck machte. Formelle und informelle Netzwerke religiöser, schulischer, universitärer oder regionaler Prägung machen die Zivilgesellschaft aus. Außerhalb dieser geschlossenen Netzwerke trauen sich Koreaner allerdings nicht recht über den Weg. Der World Values Survey 2015 fand heraus, dass Südkorea in Bezug auf das zwischenmenschliche Vertrauen schlechter abschneidet als die Nachbarländer China, Japan und Taiwan. Nur gut ein Viertel der Befragten gaben an, dass „den meisten Menschen vertraut“ werden kann. Ganz besonderer Mut zum Vertrauen und Brückenbauen wird dem koreanischen Frauen-Eishockeyteam abverlangt: Weil sich Präsident Moon Jae-in auf die rhetorische Entspannungsoffensive des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un einließ, musste Südkoreas eingeschworenes Team aus politischen Gründen kurzfristig Nordkoreanerinnen integrieren, die sportlich nicht qualifiziert waren. Ob das Experiment gelingt, wird sich vielleicht schon im ersten Spiel gegen die Schweiz am 10. Februar um 21:10 Uhr koreanischer Zeit zeigen. Das gesamtkoreanische Team wird unter der „Vereinigungsflagge“ und dem Volkslied „Arirang“ als gemeinsamer Nationalhymne auflaufen.

Kriterium 10 – Sozialordnung (7,5 Punkte): Die 32 Sportler aus Nordkorea werden bei ihrem ersten Besuch im Süden nicht nur ein verdammt reiches Nachbarland kennenlernen, sondern vielleicht auch einen Eindruck von einem hinreichend funktionierenden sozialen Sicherungssystem bekommen. Denn Südkorea hat in den letzten Jahrzehnten schrittweise seine staatlichen Vorsorgeprogramme für Krankheit, Renten, Unfälle und Arbeitslosigkeit ausgebaut. Der ehemals kommunistische Norden hingegen hat sich nach dem Kollaps staatlicher Zuwendungen in den 1990er Jahren zu einer informell-kapitalistischen Gesellschaft entwickelt, in der nur Menschen aus einer höheren Kaste (songbun) oder mit (häufig illegal erworbenem) Geld Zugang zu dringend benötigten Gütern haben.

Indikator 11.1 – Leistungsstärke der Volkswirtschaft (9 Punkte): Olympioniken und Besucher werden sich an einer exzellenten Infrastruktur und modernen Sportstätten erfreuen. Das wirtschaftliche Rückgrat der elftgrößten Volkswirtschaft ist robust. Seit der BTI-Erstveröffentlichung 2004 haben die Koreaner Australien, Mexiko, Russland und Spanien in punkto Wirtschaftskraft (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) überholt. Das Pro-Kopf-Einkommen der Südkoreaner liegt längst über dem EU-Durchschnitt. Kein Wunder, dass viele Schwellenländer das Erfolgsrezept des rekordverdächtigen südkoreanischen Aufstiegs von einem Niedrig- zu einem Hochlohnland genau studieren.

Kriterium 12 – Nachhaltigkeit (8,5 Punkte): Dank jahrelanger nationaler Sauberkeitskampagnen ist der einstmals allgegenwärtige Müll und Dreck weitgehend aus dem Straßenbild verschwunden Emissionen von Luftschadstoffen wie Schwefeloxide konnten internationalen Klimaabkommen entsprechend reduziert und die Wasserqualität und das Recycling von Abfällen verbessert werden, obwohl noch mehr Anstrengungen nötig wären. Das U-Bahn- und Nahbussystem im Großraum Seoul ist eines der effizientesten und zugleich kostengünstigsten der Welt. Bei Großprojekten allerdings haben Koreaner immer noch einen Hang zur Verschwendung. Das neu erbaute Stadion in Pyeongchang wird sofort nach Beendigung der Olympischen und Paralympischen Spiele wieder abgerissen.

Kriterium 14 – Gestaltungsfähigkeit (7,0 Punkte): Wer glaubt, effiziente Kommandostrukturen und Demokratie gingen nicht zusammen, der sollte sich Südkorea einmal genauer anschauen. Führungspersönlichkeiten sind traditionell mit einer ungeheuren Machtfülle ausgestattet und ihre Untergebenen folgen ihnen bis zu einem gewissen Punkt kritiklos. Das Ergebnis im Fall Olympia: die Sportstätten und das olympische Dorf sind bereits im Dezember fertig gestellt worden. Verspielt ein Verantwortungsträger jedoch seinen Vertrauens- und Respektvorschuss, können ihn die Koreaner ganz schnell aus dem Amt jagen, egal ob man Präsidentin oder Chef der größten Unternehmensgruppe ist. (Spoiler: Nach fast einem Jahr hinter Gittern ist Samsung-Chef Lee Jae-yong seit Wochenbeginn wieder auf freiem Fuß, nachdem ein Berufungsgericht überraschend sein Strafmaß für die Beteiligung an einem Korruptionsskandal der Regierung verkürzte – zum Ärger vieler Koreaner, die den alten Klüngel zwischen den familiengerührten Großkonzernen und Strafverfolgungsbehörden am Werk sehen.)

Kriterium 15 – Ressourceneffizienz (7,7 Punkte): Mit Ausnahme der Sommerspiele in Los Angeles 1984, die einen Überschuss erwirtschafteten, verbrennt das olympische Feuer alle zwei Jahre Unmengen an Geld. Südkorea wird keine Ausnahme sein. Doch die aktuell auf 13 Milliarden Dollar geschätzten Kosten für die Spiele liegen deutlich unter denen für Rio 2016 (20 Mrd. US-Dollar), Sotschi 2014 (51 Mrd. US-Dollar) und London 2012 (18 Mrd. US-Dollar). Überhaupt gilt der öffentliche Sektor Südkoreas als einer der effizientesten. Nur 5,7% der Arbeitskräfte (Stand: 2008, Tendenz steigend) sind von der Regierung und öffentlichen Unternehmen beschäftigt, der niedrigste Anteil aller OECD-Länder. Die Politikkoordinierung gilt wegen des relativ zentralisierten Staatsgebildes, dessen Macht auf die Regierung und insbesondere auf das Präsidentenamt konzentriert ist, als besonders wirkungsvoll. Und korruptionsanfällig. Doch auch die Institutionen zur Korruptionsbekämpfung haben sich erheblich verbessert. Ein Meilenstein ist das im März 2015 erlassene „Kim-Young-ran-Gesetz“, benannt nach einer unbestechlichen Powerfrau im männlich dominierten Justizapparat. Das Gesetz hindert unter anderem Beamte, Journalisten und Lehrer daran, sich eine Mahlzeit im Wert von mehr als 30.000 koreanischen Won (ca. 23 Euro) bezahlen zu lassen, wenn ein Interessenkonflikt bestehen könnte.

Indikator 16.5 – Versöhnung (7 Punkte): Für Pyeongchang 2018 werden Tiefsttemperaturen von minus 15 Grad Celsius und ein eisiger sibirischer Wind erwartet. Diese meteorologische Vorhersage kontrastiert mit dem unverhofften Tauwetter zwischen den verfeindeten Landesteilen, die die Herzen der Koreaner und der Weltöffentlichkeit erwärmen soll. Wie stark sich Nordkoreas Verhalten verändert hat, wird an einem historischen Vergleich deutlich: Vor den Sommerspielen in Seoul 1988 tat Nordkorea noch wirklich alles, um den Frieden zu stören. Kim Il-sungs Agenten platzierten sogar im November 1987 eine Bombe an Bord des Korean-Airlines-Fluges 858 und rissen damit 115 Menschen in den Tod. Nun, 30 Jahre später, schickt Kim Il-sungs Enkel Jong-un nicht nur Athleten, sondern auch seine Schwester nach Pyeongchang. Friedlichen Spielen steht also nichts im Wege. Gleichwohl steht zu befürchten, dass der aktuelle Versöhnungskurs der beiden Koreas eher kurzfristig denn nachhaltig ist und nach Olympia 2018 das Reservoir an politischen Gemeinsamkeiten etwa in der Nuklearfrage rasch aufgebraucht sein wird.

Kriterium 17 – Internationale Zusammenarbeit (9,0 Punkte): Erstmals werden Athleten aus mehr als 90 Staaten an Olympischen Winterspielen teilnehmen. Auch politisch ist Südkorea längst voll und ganz in der internationalen Gemeinschaft angekommen. Es unterhält diplomatische Beziehungen mit 190 Staaten. Qualitativ bleibt das Verhältnis zu den wichtigsten Partnern jedoch ambivalent. Ein großer Teil der Bevölkerung steht den beiden größten militärischen Bündnispartnern wegen der japanischen Kolonisations- und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der von vielen als zu dominant wahrgenommenen Rolle der USA sehr kritisch gegenüber. Der größte Handelspartner China, dessen politisch-strategisches Interesse am Fortbestand Nordkoreas mit der südkoreanischen Staatsräson kollidiert, lässt gelegentlich die Muskeln spielen, so etwa beim staatlich verordneten Boykott südkoreanischer Produkte in Reaktion auf die Stationierung eines US-amerikanischen Raketenabwehrsystems auf koreanischem Boden. Südkorea hat sich in dieser schwierigen Gemengelage bislang sehr gut behauptet. Aus der entwicklungs- und transformationspolitischen Perspektive des BTI ist besonders beachtlich, dass Südkorea als erstes Land überhaupt von einem Empfänger- zu einem Geberland des OECD-Entwicklungshilfekomitees wurde. Mögen die Spiele beginnen!

 

Robert Schwarz ist Projektmanager des Bertelsmann-Transformationsindex (BTI). Vor seinem Eintritt in die Bertelsmann Stiftung studierte, forschte und lebte er von 2007 bis 2011 im Großraum Seoul.

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