Wie China am Westen vorbei internationale Zusammenarbeit neu gestaltet
Das für Ende März geplante „Boao-Forum für Asien“, die asiatische Antwort auf das Weltwirtschaftsforum in Davos, musste aufgrund der Ausbreitung von COVID-19 verschoben werden. Doch sogar in Zeiten virusbedingter Verunsicherung der Weltwirtschaft nimmt Chinas Bestreben, dem Westen mit eigenen Formaten für internationale Beziehungen den Rang abzulaufen, weiter Formen an.
Chinas Außenpolitik ist wie ein Puzzle aus vielen kleinen Teilen. Jedes für sich erscheint wenig spektakulär, doch zusammengenommen bilden sie ein eindrucksvolles Netz alternativer multilateraler Bündnisse in einer Welt, die mit wachsendem Unilaterismus der Vereinigten Staaten ringt. Diese kleinen Puzzleteile sollten die krisengeschüttelten liberalen Demokratien endlich ernster nehmen, um nicht den Blick dafür zu verlieren, dass ein immer stärker werdendes China die internationalen Beziehungen neu ausrichten will.
Das Boao-Forum muss in genau diesem Licht gesehen werden. Das jährliche Treffen war für Ende März anberaumt, musste in Reaktion auf den Ausbruch des Coronavirus jedoch verschoben werden. Es dient der Zusammenkunft führender Politiker, Wirtschaftsexperten und Wissenschaftler aus Asien und darüber hinaus, die sich über wichtige regionale Wirtschaftsthemen austauschen. Obwohl das Treffen ursprünglich von den Philippinen, Australien und Japan initiiert wurde, hat China ihm seit seiner Gründung seinen Stempel aufgedrückt. Zwar folgt das Boao-Forum dem Vorbild des Weltwirtschaftsforums in Davos, betont dabei jedoch seine „asiatische Perspektive“.
Das „Davos Asiens“ ist weder die einzige hochrangige Veranstaltung, die für sich beansprucht, dass hier asiatische Probleme durch Asiaten gelöst werden, noch ist sie die einzige, die sich an westlichen Vorbildern orientiert. Neben dem „Davos Asiens“ gibt es mit dem Beijing Xiangshan Forum eine chinesische Variante des Shangri-La-Dialogs. Die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) stellt eine Alternative zu Weltbank und Internationalem Währungsfonds dar und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) wird von einigen Beobachtern auch „Nato des Ostens“ genannt. Auch wenn diese Vergleiche nicht immer passend scheinen, repräsentieren diese Institutionen doch den Multilateralismus chinesischer Art und werden von der chinesischen Regierung als angemessener für die Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert beworben als viele der multilateralen Formate, die von westlichen Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden.
Die politische Ordnung wird infrage gestellt
Der demnächst erscheinende Chinabericht des Bertelsmann Transformation Index (BTI) 2020 bestätigt, dass viele Projekte der AIIB tatsächlich die globale wirtschaftspolitische Führungsrolle der USA sowie die Japans in der Region gefährden. Ganz ähnlich wird von offizieller Seite als eines der Ziele der SOZ angegeben, „eine demokratische, faire und rationale neue politische und wirtschaftliche Ordnung“ erschaffen zu wollen. Auch andere internationale Zusammenkünfte werden von chinesischen Regierungsmitgliedern gerne als Plattformen genutzt, um öffentlich die „US-amerikanische Mentalität des Kalten Krieges“ oder das „Nullsummendenken“ zu kritisieren und stattdessen für Chinas eigenes „neues Sicherheitskonzept“ aus gegenseitigem Vertrauen, gegenseitigem Nutzen, Gleichheit und Kooperation zu werben.
Bei solchen Gelegenheiten wird an der multilateralen Zusammenarbeit nach westlichem Vorbild hauptsächlich kritisiert, dass die geschaffenen Mechanismen einseitig westliche Länder bevorzugen würden. China stattdessen bietet „demokratische“ Plattformen an, die immer deutlicher und bestimmter einem „US-Hegemonismus“ entgegentreten. In diesem Zusammenhang kommt der BTI 2020 zu dem Schluss, dass „die chinesische Regierung Gefahr läuft, sich von den liberalen Demokratien der Welt zu isolieren.“ Dabei dürfen jedoch auch die Länder am Ende des Rankings , die nicht zu den liberalen Demokratien gehören, nicht außer Acht gelassen werden. Viele davon sind zunehmend auf China angewiesen, wenn sie ihre innenpolitischen Rahmenbedingungen und ihr internationales Ansehen verbessern wollen.
Bei den Vereinten Nationen, der größten internationalen Bühne, wird bereits deutlich, wie sich die Kräfte verschieben. Während die Vereinigten Staaten vier von insgesamt 15 Generaldirektoren der UN-Sonderorganisationen stellen, setzt sich China derzeit für seinen fünften ein. Ironischerweise geht es bei der bevorstehenden Abstimmung um nichts weniger als den künftigen Leiter der Weltorganisation für geistiges Eigentum. In den UN-Sonderorganisationen werden die Spitzenpositionen von allen Organisationsmitgliedern gewählt: Wer am meisten Unterstützung erhält, gewinnt die Abstimmung. Bei der Wahl des Leiters der Welternährungsorganisation besiegte im vergangenen Juni der Chinese Qu Dongyu den von den USA unterstützten Kandidaten mit 108 zu 12 Stimmen.
Kritik an westlicher Doppelmoral bei den Menschenrechten
Auch im Bereich der Menschenrechte zeigt sich, dass China in der Lage ist, internationale Unterstützung zu mobilisieren, um zu verhindern, dass eine programmatische Ausrichtung im Sinne westlicher Demokratien stattfindet. Im vergangenen Juli unterzeichneten 22 Nationen, darunter Australien, Deutschland und Schweden, einen Brief an den UN-Menschenrechtsrat, in dem sie Chinas Masseninternierungen in der Provinz Xinjiang kritisierten. Kurz darauf unterzeichnete eine deutlich höhere Anzahl von Staaten, insgesamt 37, einen Brief, der Chinas Menschenrechtsleistungen lobte. Die meisten der prochinesischen Unterzeichner sind Partner des chinesischen Großprojekts „Neue Seidenstraße“ oder Teilnehmer der vielen von China geführten internationalen Zusammenkünfte. Viele Staaten, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, freuen sich über chinesische Kreditzusagen. Dies führt in Verbindung mit einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit westlicher Doppelmoral und Voreingenommenheit im internationalen Kontext zu der hohen Zahl von Staaten, die China international unterstützen.
Das diesjährige Motto des Boao-Forums trifft, ob wir wollen oder nicht, ins Volle: „Eine Welt im Wandel: Gemeinsam für eine gemeinsame Zukunft“. Genau richtig, denn der aktuelle Coronavirus-Ausbruch zeigt, wie verbunden die Welt untereinander ist. Folglich müssen auch Staaten mit unterschiedlichen Systemen und Interessen zusammenarbeiten, um einige der größten Herausforderungen unserer Zeit, einschließlich Gesundheitskrisen und Klimawandel, zu bewältigen. Voraussetzung für die bessere Positionierung der westlichen Demokratien in einer sich zunehmend verändernden Welt, die immer mehr von China dominiert wird, ist, dass sie endlich auch die kleineren Teile des außenpolitischen Puzzles des Landes ernst nehmen. Stärke und Charakter der neuen Beziehungen Chinas müssen erkannt werden und die veraltete und oft bevormundende Überzeugung, dass nur die eigenen multilateralen Institutionen von Bedeutung sind, gehört über Bord geworfen. Außerdem wäre man gut beraten, alles zu unternehmen, um Anreize für andere Staaten zu schaffen, sich an internationale Menschenrechtsstandards zu halten und sich zu demokratisieren. Dazu gehört sowohl eine Stärkung der kränkelnden westlichen Institutionen als auch ein glaubwürdigerer Weg bei der Einhaltung der eigenen Menschenrechtsverpflichtungen. Westliche Demokratien würden damit nicht nur eine realistischere Vorstellung von der heutigen Welt jenseits des Westens bekommen, sondern auch ihre Chancen auf eine einflussreiche Position in dieser Welt erhöhen, in der selbst die feindlichsten Staaten – ob sie wollen oder nicht – ein Bündnis „für eine gemeinsame Zukunft“ eingehen müssen.
Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.
Photo: John Fielding via flickr.com, CC BY 2.0