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Endspiel: Warum Militärs Bouteflika und al-Bashir im Stich ließen, aber Maduro stützen

Massive friedliche Proteste sind das ultimative Endspiel für Autokraten: Wenn alle anderen Mittel versagt haben, hängt das politische Überleben der Amtsinhaber von der Loyalität ihrer Streitkräfte ab. Im Jahr 2019 entschieden Soldaten das politische Schicksal von Präsidenten in Algerien, Sudan und Venezuela.

Als der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika im Februar 2019 verkündigte, für eine fünfte Amtszeit kandidieren zu wollen, ging die Bevölkerung auf die Straße. Nach wochenlangen Protesten drängte das Militär den Präsidenten schließlich zum Rücktritt. In ähnlicher Weise entthronten die sudanesischen Streitkräfte nach einem Monat landesweiter Proteste den langjährigen Herrscher Omar al-Bashir. In Venezuela wiederum hält das Militär den Amtsinhaber Nicolás Maduro trotz anhaltender Proteste noch immer im Amt.

Warum reagieren Militärs unterschiedlich auf Proteste in Autokratien? Warum bleiben manche loyal und verteidigen den Amtsinhaber mit Waffengewalt, während andere defektieren und sich entweder der Opposition anschließen oder putschen? Von 2015 bis 2019 untersuchten Forscher*innen der Heidelberger Universität im Projekt „Dictator‘s Endgame“ militärische Reaktionen auf friedliche Massenproteste. Im Mittelpunkt des Projekts stand die Erhebung eines Datensatzes, der alle 40 „Endspiele“ zwischen 1946 und 2014 umfasst.

Zwei Befunde des Projekts sind hervorzuheben: Erstens sind unter den vielen Faktoren, die für die Reaktion des Militärs als wichtig erachtet werden, zwei zentral:  Zum einen wurden die meisten militärischen Organisationen, die Proteste unterdrückten, entlang religiöser, ethnischer oder anderer soziopolitisch bedeutsamer Konfliktlinien rekrutiert (siehe Abbildung 1). Zum anderen genießen treue Militärs materielle Vergünstigungen und wirtschaftliche Vorteile (siehe Abbildung 2).

Abbildung 1. Rekrutierung und Reaktionen auf Endspiele. Quelle: Endgame Dataset.

Zweitens ist die Entscheidung des Militärs letztlich auf ein einfaches Kosten-Nutzen-Kalkül zurückzuführen: Welche Handlungsoption dient seinen materiellen und politischen Interessen am besten? Autokraten überleben Endspiele dann, wenn sie die Interessen des Militärs an den Status quo binden. Das heißt aber auch, dass Militärs selten Befürworter eines politischen Wandels aus rein normativen Gründen sind. Wenn sie sich auf die Seite der Opposition schlagen, dann geschieht dies überwiegend aus Eigeninteresse und nicht aufgrund einer uneingeschränkten Unterstützung der Demokratie.

Abbildung 2. Finanzielle Profite und Reaktionen auf Endspiele. Quelle: Endgame Dataset.
Neue Endspiele in Algerien, Sudan und Venezuela

Die Endspiele in Algerien, Sudan und Venezuela 2019 spiegeln diese Erkenntnisse wider. In Algerien ließ das Militär, angeführt vom mächtigen Armeechef General Ahmed Gaïd  Salah, den Präsidenten fallen. Angesichts der weitreichenden Privilegien des Militärs scheint dieser Schritt auf den ersten Blick kontraintuitiv. Im undurchsichtigen Herrschaftsgeflecht Bouteflikas genossen Militär- und Sicherheitseliten großen politischen Einfluss und die algerischen Streitkräfte verfügten über den größten Wehretat Afrikas. Als die Proteste das Regime jedoch ernsthaft bedrohten, standen diese Privilegien plötzlich auf dem Spiel. Indem die Militärführung den Präsidenten fallen ließ, konnte sie inmitten der unsicheren politischen Lage das Ruder in die Hand nehmen und versuchen, die Privilegien des Militärs über die Ära Bouteflikas hinaus zu sichern. Der Sturz Bouteflikas eröffnete dem Militär auch eine Gelegenheit, sich unliebsamen Rivalen innerhalb der Herrschaftselite zu entledigen. So wurde beispielsweise Said Bouteflika, der Bruder des zurückgetretenen Präsidenten und womöglich der eigentliche Strippenzieher hinter dem kränkelnden Bouteflika, vor kurzem von einem Militärgericht verurteilt.

Im Sudan hing das Überleben von al-Bashir’s Regime mindestens seit dem Jahr 2013 in der Schwebe, als massenhafte Proteste gegen die verheerenden Lebensbedingungen erstmals ausbrachen. Bashir wurde zunehmend nicht nur von Studierenden, Gewerkschaftsführern und politischen Aktivisten, sondern auch von seiner eigenen Partei, der Nationalen Kongresspartei, kritisiert. Aus Sicht des Militärs stand ein politischer Umbruch kurz bevor und warf die Frage auf, was auf eine Herabsetzung des 76-jährigen Präsidenten folgen würde: Ein Einflussverlust durch den Machtzuwachs von rivalisierenden Einheiten im Sicherheitsapparat? Eine Demokratisierung, die das Militär an den Rand drängen würde? Oder gar internationale Strafverfolgung ranghoher Generäle wegen unzähliger Menschenrechtsverletzungen? Entscheidungsfindung unter ungewissem Ausgang beschreibt das zentrale Dilemma der sudanesischen Streitkräfte im Vorfeld des Putsches. Treue zu al-Bashir versus ein Staatsstreich gegen das Regime muss wie eine Wahl zwischen Pest und Cholera angemutet haben. Beide Optionen waren riskant. Ein Putsch, der es dem Militär ermöglichte, die Übergangsphase zu lenken, stellte sich jedoch am Ende als die sicherste Variante heraus.

Im gegenwärtigen Chaos Venezuelas betreiben die Eliten des Landes ein riskantes Spiel um das politische Überleben. Präsident Maduros politisches Schicksal ist an dessen Fähigkeit gekoppelt, die von Hugo Chavez geschaffenen klientelistischen Netzwerke aufrechtzuerhalten. Diese sind darauf ausgelegt, diejenigen zu unterstützen, die sich nach wie vor der „Bolivarischen Revolution“ verpflichtet fühlen. Zu solchen Netzwerken gehören auch die obersten Ränge des Militärs. In gewisser Weise gilt die Unterstützung des Militärs weniger dem Regime Maduros als vielmehr dem Erbe seines Vorgängers. Während Maduro selbst keinen militärischen Hintergrund hat, lernte er von Chavez, wie wichtig es ist, ein Militär eng an das herrschende Regime zu binden. Vor diesem Hintergrund erweiterte er die Rolle des Militärs in der Politik, indem er loyale Offiziere auf eine wachsende Zahl politischer Ämter verteilte. Diese Strategie zielt nicht darauf ab, das Militär mit politischer Macht auszustatten, sondern das Offizierskorps wirtschaftlich zu kooptieren. Angesichts des beispiellosen wirtschaftlichen Niedergangs Venezuelas – ein “miracle in reverse” (BTI Country Report Venezuela 2020) -, erhöht die Aussicht auf lukrative Wirtschaftssektoren die Kosten des Militärs, sich von Maduro abzuwenden. Diese Strategie erinnert die Offiziere daran, dass ihnen eine unsichere Zukunft bevorsteht, sollten sie sich ihres Geldhahns entledigen.

Militärs und Aussichten auf demokratische Entwicklung

In Endspielen besiegeln Militärs nicht nur das politische Schicksal autoritärer Amtsinhaber. Ihre Reaktionen beeinflussen auch die Chancen für eine demokratische Entwicklung. Befunde des Endgame-Projekts zeigen, dass militärische Unterdrückung autoritäre Herrschaft verlängert. Auch auf Coups folgt selten Demokratie. Unter allen Endspielen haben diejenigen, die durch militärische Loyalitätswechsel entschieden wurden, die größte Chance, den Weg für einen Übergang zur Demokratie zu ebnen.

Wie haben militärische Reaktionen auf Massenproteste in Algerien, Sudan und Venezuela die Aussicht auf Demokratisierung beeinflusst? In allen drei Ländern ist eine nachhaltige demokratische Entwicklung in absehbarer Zeit unwahrscheinlich. In Algerien und im Sudan wandten sich Militärs aus eigennützigen Gründen und nicht der Demokratie willens von den langjährigen Herrschern ab. In Algerien konnte die Militärführung ihre – wahrscheinliche – Agenda umsetzen: Obwohl der Loyalitätsentzug des Militärs den Demonstranten einen minimalen Sieg verschaffte, den Sturz des Präsidenten, hat das Regime – zumindest bis jetzt – einen grundlegenden Wandel von seiner autoritären Vergangenheit und seiner undurchsichtigen Herrschaftspraxis vermieden. Im Sudan hat das Militär vereinbart, einen Übergangsrat einzurichten, der sowohl zivile als auch militärische Vertreter umfasst. Doch bereits jetzt ist General Mohamed Hamdan „Hemedti“ Dagalo, der Chef der paramilitärischen „Rapid Response Force“, als neuer starker Mann innerhalb des Sicherheitsapparats aufgestiegen. In Venezuela ist nicht zu erwarten, dass sich die Situation in absehbarer Zeit ändert. Solange das Militär eine mögliche demokratische Wende und ihre Folgen für seine wirtschaftliche Position fürchtet, ist ein Überlaufen zur Opposition schlichtweg keine rationale Alternative.

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